Leicester City:Triumph des Bastlers

Er verlor gegen die Färöer, nun lenkt der 64-jährige Italiener Claudio Ranieri die Premier-League-Auswahl von Leicester City zu einem der beeindruckendsten Außenseitersiege in der Sport-Geschichte.

Von Birgit Schönau

Mamma mia, es ist wirklich wahr!" Das römische Lokalblatt Messaggero bekommt Claudio Ranieri zuerst an die Strippe, schließlich handelt es sich um eine Art Nabelschnur in die Heimat. Mamma mia, Leicester ist Meister. Mit illustren Nobodys wie Kasper Schmeichel, Wes Morgan, Christian Fuchs, Robert Huth, N'Golo Kanté oder Jamie Vardy. Und Ranieri, der das dreckige Dutzend aus Bauern und Kneipenschlägern, Zukurz- und Zuspätgekommenen zum Dream-Team triumphaler Fußballmärchenprinzen geformt hat, mutiert vom Mechaniker zur Majestät. "Tinkerman" nannten ihn früher die Engländer: den Bastler. Jetzt ist er auf der Insel King Claudio.

In Rom aber, wo eine Truppe wie die von Leicester City hervorragend ins Kolosseum gepasst hätte, wird "Claudius" gleich zum Imperatore erhoben. Der erfolgreichste Eroberer Britanniens seit dem gleichnamigen Kaiser! Letzterer war vom Philosophen Seneca mit der Schmähschrift "Die Verkürbissung des Claudius" bedacht worden, verspottet wegen seiner Schüchternheit und des ungelenken Auftretens.

Auch Claudio Ranieri ist zurückhaltend, ein notorischer Abwiegler. Sein antiker Kopf würde auf jede Kaiserstatue passen, sein Understatement weniger. Ranieri ist kein Charismatiker und viel zu selbstironisch, um den unerbittlichen Feldherrn zu geben. Oft lag der Lorbeer zum Greifen nah, aber dann wurde er wieder mal Zweiter, höchstens. 14 Mannschaften in fünf Ländern hat er in den vergangenen 29 Jahren trainiert, nie ein Klub-Derby verloren, hier und da einen Pokal gewonnen, aber nie eine Meisterschaft. Nicht in Spanien mit Valencia und Atlético Madrid, nicht in England mit Chelsea, nicht in Frankreich mit AS Monaco und nicht in Italien mit den Großklubs Inter Mailand, AS Rom oder dem Rekordmeister Juventus.

Leicester City: Erinnerungen: Leicester-Fans lassen sich vor dem Graffiti-Porträt von Trainer Ranieri fotografieren, das der Street-Art-Künstler Robert Wilson fertigte.

Erinnerungen: Leicester-Fans lassen sich vor dem Graffiti-Porträt von Trainer Ranieri fotografieren, das der Street-Art-Künstler Robert Wilson fertigte.

(Foto: Jonathan Brady/AP)

Als "Mr. Null Titel" verhöhnte ihn der damalige Serie-A-Kollege José Mourinho. Ranieri sei zu alt, um eine Mannschaft zu führen, "Englisch kann er auch nicht, außer ,Good Morning' und ,Good Night'".

Der Geschmähte wurde gleich zweimal Zweiter hinter Mourinhos Inter, mit Juve und mit der Roma. Dann beerbte Ranieri den Triple-Sieger Mourinho bei Inter: null Titel. Aber viel schlimmer erging es ihm als Nationaltrainer von Griechenland, wo seine Elf in der EM-Qualifikation das Heimspiel gegen die Färöer mit 0:1 verlor. Nicht einmal ein Jahr ist das her, und die Verkürbissung des Claudio Ranieri schien perfekt zu sein, als ihn Leicester rief. "Ranieri? Really?", spottete Gary Lineker.

Der einstige Nationalstürmer und heutige Fußball-Interpret kündigte an, in Unterhosen im Fernsehen aufzutreten, wenn sein alter Klub mit dem langweiligen italienischen Trainer Meister werden sollte. Inzwischen ist die Aussicht, Gary Lineker halbnackt zu sehen, die langweiligste Fußnote in einer der aufregendsten Premier-League-Spielzeiten.

Und geradezu penetrant langweilig ist die immer wieder gern gepflegte These, italienische Trainer seien perfide Kastrationsmaschinen für den englischen Männerfußball. Seit 2010 ist Ranieri bereits der dritte Coach aus dem Mutterland des Catenaccio, der auf der Insel Meister wird, nach Carlo Ancelotti (FC Chelsea, 2010) und Roberto Mancini (Manchester City, 2012). Und dabei wirkte Ranieris Team die meiste Zeit wie eine Rugbytruppe. Ob einige Spieler dabei gedopt waren, wie neuerdings der halbseidene Doctor Mark Bonar behauptet, wird zu klären sein. Nicht nur für den wohl bis auf die Knochen integren Claudio Ranieri wäre das eine Katastrophe.

Auf die erste Meisterschaft musste Ranieri 64 Lebensjahre warten, Leicester sogar 132 - gemeinsam brauchten sie knapp neun Monate. Hartes Training, eine anpassungsfähige italienische Taktik, viel Gemeinschaftsgefühl, nicht nur beim Pizzabacken. "Wir wollen allen Mut machen, denen man einbläut, sie seien nicht gut genug", schrieb Ranieri unlängst: "A full battery, and run free." Sein Englisch ist immer leicht ironisch, vor allem aber leise. Heute sagt er: "Ich habe schon vorher oft gewonnen. Jedes Mal, wenn ich mehr erreicht habe, als man von mir verlangt hat."

Stets wurde er als Mechaniker gerufen, der in Krisenzeiten die Schrauben festziehen sollte. Good Old Tinkerman. Andere wollen den Fußball neu erfinden, ein Römer weiß, dass es nichts Neues unter der Sonne gibt. Wer ewig dauern will - und 30 Jahre Wanderschaft durch Europas Klubs sind eine Ewigkeit -, der muss pragmatisch, ja geschmeidig sein. "Pep Guardiola hat uns alle mit seinen Ideen angeregt. Aber warum sollte ich Ballbesitz predigen, wenn meine Männer sich dafür umbringen müssen?", sagt Ranieri.

Angeblich hat kein Team mehr Fehlpässe gespielt als der neue englische Meister. Aber was soll's, in Leicester ging es zunächst doch eigentlich um den Klassenerhalt. Und jetzt wollen sie eine Straße nach ihm benennen; natürlich heißen schon die ersten Neugeborenen Claudio. Seine Gelassenheit war vorher berüchtigt, nun ist sie legendär. "Genauso erfunden wie die Geschichte vom ewigen Zweiten. Ihr könnt beruhigt sein, ich rege mich auf! Mi incazzo!", hält Ranieri nun ein Plädoyer in eigener Sache. Im Stadion konnte man bislang nur sehen, wie ihm unter all den Jubelarien Tränen der Rührung übers Gesicht liefen.

Cool kann er aber auch. Am D-Day zu Mamma fliegen, das wäre nichts für Wichtigtuer. Aber versprochen ist versprochen. Mamma Renata ist 96 und jede Minute mit ihr sei kostbar, wertvoller jedenfalls als in Leicester Präsenz zu zeigen, während man eventuell Meister wird. Am Sonntag, nach dem 1:1 bei Manchester United, reiste Ranieri jedenfalls nach Rom, am Tag danach besiegelte das 2:2 des FC Chelsea gegen Tottenham Hotspur, den ersten Verfolger, den Sensationstitel. Wo Renata wohnt, wollte Ranieri den englischen Reportern nicht sagen: "Das möchten Sie wohl gern wissen, Sie Latin Lover!"

Vier Großklubs dominieren - Alle Premier-League-Meister seit 1992

Seit die höchste Fußball-Liga Englands 1992 in Premier League umbenannt wurde, holte vor Leicester nur ein Mal ein kleinerer Verein die Meisterschaft: 1995 die Blackburn Rovers. Die weiteren 22 Titel seither teilten sich vier Großklubs:

Manchester United: Meister 1993, 1994, 1996, 1997, 1999, 2000, 2001, 2003, 2007, 2008, 2009, 2011, 2013.

FC Arsenal: 1998, 2002, 2004.

FC Chelsea: 2005, 2006, 2010, 2015.

Manchester City: 2012, 2014.

Am Tag, an dem er Meister wurde, flog Ranieri erst einmal zum Essen mit Mamma nach Rom

Mamma residiert übrigens unweit der Gegend, in der alles anfing für den Römer Claudio. In Testaccio, wo sich in der Kaiserzeit der große Tiberhafen befand, führte Ranieris Vater eine Metzgerei. Die Familie lebte nicht weit entfernt auf dem Hügel von San Saba, einem noch heute dörflich anmutenden Viertel mit niedrigen Ziegelhäusern, einem Markt, der frühchristlichen Basilika.

Dort, auf dem Ascheplatz der Kirchengemeinde, lernte der kleine Claudio das Fußballspielen unter priesterlicher Anleitung, "und wer sonntags nicht in der Messe erschien, wurde erst einmal gesperrt". Nach Rom kommt Ranieri, wann immer er kann. Ein Spaziergang durch das Zentrum, ein Stadionbesuch bei seiner Herzensmannschaft AS Rom, ein Sprung an den Meeresstrand von Santa Severa.

Am Montag allerdings flog Ranieri dann doch nach dem Mittagessen mit Mamma wieder zurück. Gerade noch rechtzeitig, um das 2:2 des Chelsea-Spielers Eden Hazard in der 83. Spielminute gegen Tottenham zu sehen, das Leicester bereits zwei Spieltage vor dem Saisonende zum Meister krönte - und Claudio Ranieri zum Kaiser von England. Auch in Testaccio rüstet man sich zum großen Fest. Mamma mia, es ist wirklich wahr. Divus Claudius, erst verkürbist, dann vergöttlicht.

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