Leeds United:Lernen beim Verrückten

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Der Trainer Marcelo Bielsa macht den Aufsteiger zur Attraktion der Premier League. Manche Spieler hoffen dank des Argentiniers auf einen Karriereschub.

Von Sven Haist, Leeds

„Wow, alles Weltstars, gegen die ich spielen darf!“, dachte Robin Koch (rechts) – und traf im ersten Spiel gleich mal auf Liverpools Sadio Mané. (Foto: Phil Noble/imago images)

In der Körperhaltung eines Tüftlers sitzt Marcelo Bielsa an Spieltagen als Trainer von Leeds United auf einem blauen Eimer. Leicht vorgebeugt mit gesenktem Kopf und grübelndem Blick erinnert er dann an die berühmte Skulptur "Der Denker", eines der viel kopierten Hauptwerke des Bildhauers Auguste Rodin, das Original ist im Musée Rodin in Paris zu besichtigen. Die Plastik repräsentiert Schöpfungskraft und menschliche Vernunft - Bielsas professorales Erscheinungsbild lässt auch ihn als Eminenz erscheinen.

Nach 16 Jahren ist Leeds mal wieder in der Premier League dabei, und spätestens seit dem Aufstieg haben die Fans diesen Bielsa, 65, auf einen Sockel gestellt. Über den Argentinier aus Rosario, Region Santa Fe, woher auch Lionel Messi kommt, glauben die United-Anhänger inzwischen sogar so einiges zu wissen, obwohl sie nahezu nichts wissen können. Denn des Englischen ist Bielsa kaum mächtig, und am öffentlichen Leben der 475 000-Einwohner-Stadt, die eine Autostunde nordöstlich von Manchester liegt, nimmt er nicht teil.

Dieser Rückzug in die Anonymität stärkt aber nur die Bewunderung für den aufgrund seines Fußballintellekts weltweit beobachteten Bielsa, der von 1998 bis 2011 Nationaltrainer von Argentinien und Chile war. Im spanischen Sprachraum ist er bekannt als "El Loco", der Verrückte. Trainern wie dem Katalanen Pep Guardiola (Manchester City) oder dem Argentinier Diego Simeone (Atlético Madrid) gilt er als Großmeister der Zunft. Nun sorgt Bielsa dafür, dass Leeds United, das dem italienischen Geschäftsmann Andrea Radrizzani gehört, nahezu bedingungslos nach seiner Vorstellung getrimmt wird. Und bislang halten sich in Englands größter Ein-Klub-Stadt alle an Bielsas Credo: Gebe nie einem Trainer einen Rat, außer er fragt danach.

Wegen des aufregenden Spielstils und wegen Bielsa gilt Leeds gerade als das heißeste Ding der Premier League. Dieser Erwartung konnte der Neuling bisher standhalten, im Auswärtsspiel am Montag bei den Wolverhampton Wanderers folgt die nächste Prüfung. Mit sieben Punkten aus vier Spielen befindet sich Leeds, einst Gründungsmitglied der Premier League, in Schlagdistanz zur Tabellenspitze. Für knapp über 100 Millionen Euro wurde der Kader im Sommer verstärkt, darunter war der 30 Millionen teure brasilianische Rekordtransfer Rodrigo vom FC Valencia - sowie Robin Koch, der für circa 15 Millionen beim SC Freiburg ausgelöst wurde.

Trainer-Guru: Marcelo Bielsa. (Foto: Paul Ellis/dpa)

Nach drei Bundesliga-Lehrjahren bei Christian Streich, der eine Art deutscher Bielsa ist, jedenfalls was die Eigentümlichkeiten betrifft, entschied sich Koch zur Weiterbildung und unterschrieb in Leeds bis 2024. Das erste Kennenlernen mit Bielsa, erzählt Koch beim Treffen im Stadtzentrum, habe es aber erst auf dem Platz gegeben. "Welcome", raunte ihm Bielsa kurz zu - schon startete das Training. "Die ersten Wochen waren sehr intensiv", so Koch, "da bin ich direkt in ein körperliches Loch gefallen." In Freiburg werde auch ein kraftraubendes Spiel praktiziert, aber in Leeds sei es noch strapaziöser. Die Herausforderung liegt auf der Hand: "Ich habe gezeigt, in der Bundesliga bestehen zu können. Jetzt will ich mir beweisen, dass ich in der Premier League klarkommen kann."

Die Perspektive ist klar, Koch will von Bundestrainer Joachim Löw für die EM 2021 als Verteidiger nominiert werden: "Ich sehe mich als Herausforderer mit der Ambition, zum Einsatz zu kommen."

Vier Spiele gab es - bisher hat Koch, 24, keine Premier-League-Minute verpasst. Zum Auftakt ging es gleich an die Anfield Road, zu Meister FC Liverpool. "Ein Kindheitstraum", erzählt Koch: "Natürlich war ich fokussiert, aber in einem kleinen Moment habe ich gedacht: Wow, alles Weltstars, gegen die ich gleich spielen darf." Aus dem Traum wurde kurz ein Albtraum, als Koch schon in Minute drei einen Handelfmeter verursachte. "Da hatte ich nur zwei Optionen: mich darüber aufregen, oder mein Spiel durchziehen. Wir haben dann als Team gezeigt, dass wir uns nicht unterkriegen lassen."

Es folgte eine Achterbahnfahrt: Letztlich ein 3:4 in Liverpool, dann daheim an der Elland Road ein 4:3 gegen Fulham, nach 4:1-Führung. Kochs Analyse: "In den letzten Minuten habe ich gedacht, dass es wohl besser wäre, hinten zuzumachen. Das ist aber ein Unterschied zur Bundesliga, wo man das Ergebnis eher absichern würde." Bielsa hingegen predigt eine Urform des Fußballs: immer offenes Visier, immer nach vorne. Das Spiel ist für ihn dazu da, all jenen eine Freude zu bereiten, die es schwer haben, Freude zu finden. "Der klassische Verteidiger würde sicher nicht nach Leeds gehen", findet Koch: "Ich stehe aber auf offensiven Fußball - somit hat Leeds bei mir ins Schwarze getroffen." Verteidigt wird übers ganze Feld, nach Ballverlust nimmt Leeds die Gegenspieler meist in Manndeckung. "Für mich ist das ungewohnt, am gegnerischen Stürmer dranzubleiben. Da komme ich als Innenverteidiger an Orte, an denen ich sonst nie war. Ich habe gezuckt, als ich unsere Mittelfeldspieler auf dem Platz überholt habe."

Unter Bielsa hofft Koch, der als athletisch und passsicher gilt, zu einem international beachteten Verteidiger aufzusteigen. In Leeds gelang das zur Jahrtausendwende zum Beispiel dem Engländer Rio Ferdinand, der später mit Manchester United große Erfolge feierte. "Es fällt an Kleinigkeiten auf, dass Bielsa einen weiterbringen will", sagt Koch: "Jede Passübung ist mit einem taktischen Hintergrund versehen." Und seine Eigenheiten, von denen immerzu die Rede ist? "Er ist immer mit einer kleinen Taktiktafel ohne Magnete unterwegs und zeichnet bei jeder Unterbrechung mit dem Stift seine Vorstellungen auf. Man muss dann sehr aufpassen, um den Gedankengängen folgen zu können."

Robin Koch hat allerdings den Vorteil einer familiären Verteidiger-Ausbildung. Vater Harry galt als Kultprofi, weil er zu jener Sensationself des TSV Vestenbergsgreuth zählte, die im August 1994 den FC Bayern mit 1:0 aus dem DFB-Pokal bugsierte. Harry war der mit dem Lockenkopf, der die Münchner Flankenbälle in Serie aus der Gefahrenzone bugsierte. Damit empfahl er sich für den 1. FC Kaiserslautern, mit dem er - zweite Sensation - 1998 unter Trainer Otto Rehhagel deutscher Meister wurde. Als Aufsteiger. Eine weitere Parallele zwischen Vater und Sohn?

Das ist jetzt doch ein bisschen zu weit hergeholt. Aber immerhin gelang Aufsteiger Leeds am vierten Spieltag ein 1:1 gegen Manchester City, den Meister von 2019. Nach dem Spiel kauerte Marcelo Bielsa lange in der Hocke am Spielfeldrand - so, als müsse er jetzt erst einmal nachdenken. Über all die schönen Chancen, die seine Elf an diesem Tag verschwendet hatte.

© SZ vom 18.10.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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