SZ-Serie "Die besten Sportfilme", Platz 15:Ballade ans Meer

SZ-Serie "Die besten Sportfilme", Platz 15: Still aus "Im Rausch der Tiefe", wie der Filmtitel von "Le Grand bleu" auf Deutsch lautet.

Still aus "Im Rausch der Tiefe", wie der Filmtitel von "Le Grand bleu" auf Deutsch lautet.

(Foto: Verleih; Bearbeitung SZ)

"Le Grand Bleu" erzählt von zwei befreundeten Apnoetauchern, die zu Rivalen werden. Der Film ist ein kleines Wunder.

Von Philipp Schneider

Sportfilme haben es von Natur aus schwer: Der geneigte Sportfan erkennt sofort, dass selbst begnadete Schauspieler nicht zwingend Topathleten sind und Topathleten noch seltener begnadete Darsteller. Doch in den vergangenen Jahren ist die Auswahl gelungener Filme immer größer geworden: Die SZ-Sportredaktion stellt 22 von ihnen vor und kürt damit die - höchst subjektiven - 22 besten. Diesmal Platz 15: "Le Grand Bleu".

Ab einer Tiefe von 30 Metern geht es los. Was der Taucher spürt, ist wie eine Droge. Benommenheit. Angstzustände. Ausgeprägte Glücksgefühle. Und, was immer wieder berichtet wird: ein Gefühl der Unbesiegbarkeit, der Unsterblichkeit, das vom Taucher Besitz ergreift. Und das ihn dazu bringt, den Lungenautomaten aus dem Mund zu nehmen und den Fischen hinterher zu schwimmen, in völliger Überzeugung, er könne Unterwasser atmen. Tiefenrausch.

Biochemisch betrachtet ein spannender Vorgang: Der Druck des Wassers wirkt sich aus auf den Stickstoff, den der Taucher in seinem Blut führt. Je tiefer er sinkt, desto stärker perlt das Gas aus den Membranen seiner Fettzellen und wirkt schließlich toxisch auf das zentrale Nervensystem. Auf die Gesetze der Biochemie allein sollte man Luc Bessons Meisterstück "Le Grand Bleu" allerdings nicht reduzieren. Auch wenn das die deutschen Verleiher offensichtlich im Sinn hatten, als sie Bessons hypnotischem Märchen den knüppelharten Titel "Im Rausch der Tiefe" verliehen. Womit sie gewissermaßen die Pointe, zumindest aber die Schlusssequenz des Films vorwegnahmen, in der der Apnoe-Taucher Jacques Mayol beschließt, in großer Tiefe einem Delfin hinterher zu schwimmen. Sei es aus der Überzeugung, er könne Unterwasser atmen. Oder gar im Vorhaben, seinem Leben ein Ende zu setzen.

Viel entscheidender ist die sich dem Zuschauer erschließende Alternativlosigkeit seiner Handlung. Jacques' Freund Enzo ist tot. Gestorben im Vorhaben, tiefer zu tauchen als Jacques. Und damit ist zugleich der einzige Anker gelichtet, der ihn noch mit der Welt der Menschen verband, die ihm schon immer sehr fremd war. Einer Welt des ewigen Wettbewerbs, der Rekorde. Die, und das hat Jacques sehr viel schneller begriffen als sein Freund Enzo, mit dem er sich wechselseitig die neuen Tieftauchmarken abjagte, eine geradezu lächerliche Halbwertzeit haben.

Der Wettbewerb frisst seine Protagonisten

Und so ist "Le Grand Bleu" auch kein Sportfilm im klassischen Sinn. Weil hier der Wettbewerb seine Protagonisten frisst. Besson hat sich für sein Drehbuch von den Tauchern Jacques Mayol und Enzo Majorca inspirieren lassen, die sich in den Sechzigerjahren im Tieftauchen überboten. Vor- und Nachgeschichte spinnt er weiter: Er erzählt das Märchen vom Franzosen Jacques und dem Italiener Enzo, die gemeinsam auf einer griechischen Insel aufwachsen. Während Enzo bei den anderen Kindern im Dorf sehr beliebt ist, ist Jacques ein Einzelgänger, der stark auf seinen Vater fixiert ist, der als Schwammtaucher arbeitet. Als dieser bei einem Tauchunfall ums Leben kommt, verlässt Jacques die Insel und begegnet Enzo erst als Erwachsener wieder.

Während Enzo der aktuelle Weltrekordhalter im Tauchen ohne Sauerstoffgerät ist, taucht Jacques zu wissenschaftlichen Zwecken. Enzo überredet Jacques bei der nächsten Weltmeisterschaft im Apnoetauchen gegen ihn anzutreten. Die beiden reisen nach Taormina, Sizilien, wo Jacques die New Yorker Versicherungsagentin Johana (Rosanna Arquette) wieder trifft, die er in Peru kennen gelernt hatte.

Wer Anfang der Neunziger seinen Tauchschein gemacht hat, für den war "Le Grand Bleu" eine Offenbarung. Eine Ode an die Freundschaft, die ein ganzes Leben hält. Eine Ballade an das Meer. Und einer der ganz wenigen Filme der Geschichte, in denen Kamera (Carlo Varini) und Score (Eric Serra) eine so tiefe Symbiose eingehen, dass die eine Spur gar nicht mehr vorstellbar ist ohne die andere. So wie in "Blade Runner". Wie in "Midnight Run". Und wie in allen Filmen von Sergio Leone, der seine Bilder sogar nachträglich rund um die Scores des unvergleichlichen Ennio Morricone arrangierte.

Leone hilft auch beim Dechiffrieren von "Le Grand Bleu". Über Clint Eastwood hat Leone mal gesagt, er besitze als Darsteller nur zwei Gesichtsausdrücke. Einen mit Hut und einen ohne. Er meinte das gar nicht vorwurfsvoll. 1964 suchte Leone einen passenden Hauptdarsteller für den Western "Per un pugno di dollari" (Für eine Hand voll Dollar). Ein Grimassenkünstler wie Jim Carrey wäre die falsche Wahl gewesen. Er brauchte jemanden, dessen Gesicht hinter einer Rolle zurücktreten musste, die so sehr auf den Wesenskern des "Fremden" zurückgeworfen wurde, dass er nicht einmal einen eigenen Namen erhielt. Und so also ballert sich der schweigsame Eastwood ohne Mimik, dafür aber mit einem ganzen Arsenal an Requisiten (Hut, Zigarillo, Dreitagebart, Poncho) durch den mexikanischen Wüstenort San Miguel. Und quasi im Vorbeigehen füllt er die Särge des Bestatters Piripero. Und zwar so vorbildlich, dass der gar nicht umhinkommt, seinem zuverlässigsten Lieferanten einen Namen zu geben: Er nennt ihn "Joe".

Wer Jacques sieht, muss an Joe denken. Auch er: zurückgeworfen aufs Wesentliche, seine erzählerische Funktion. Keine Mimik, nur zwei Gesichtsausdrücke: einen ohne Lächeln, einen mit. Jacques kann einen wahnsinnig machen mit seiner Ausdrucklosigkeit. Den Zuschauer. Vor allem aber seine Freundin, die er noch in der ersten gemeinsamen Nacht alleine im Bett zurücklässt, um statt eines möglichen zwischenmenschlichen Nachspiels die Zeit mit einem Delfin zu verbringen, mit dem er dann bis zum Morgengrauen Seit an Seit durchs Meer pflügt. Was sie denn von Jacques erwarte, fragt Enzo die Frau, zu der er sich selbst hingezogen fühlt, aber irgendwie doch Kumpel genug ist, um die Sache nicht zu forcieren. Jacques sei "nicht von dieser Welt". Er sei "wie ein Baby, das gerade erst Laufen gelernt hat".

Enzo braucht Jacques als seine sportliche Nemesis

"Le Grand Bleu" erzählt die Geschichte eines Menschen, der sich zunehmend entfremdet von der Welt. Als seine Mutter die Familie verlässt, beschließt der kleine Jacques, dass ihn Sprechen nicht weiterbringt. Und als er auf dem Boot steht, unter dem sein tauchender Vater ums Leben kommt, lernt Jacques die nächste Lektion: Das Leben ist knüppelhart, aber das Ende steht ja unverrückbar schon fest. Er solle keine Angst haben, sagt Jacques' Vater, ehe er letztmals hinabtaucht. "Wenn ich müde werde, helfen mir die Meerjungfrauen weiter." Von diesem Moment an entwickelt sich der Sohn kaum noch weiter.

Jacques Mayol ist wie Oskar Matzerath aus der "Blechtrommel" von Günter Grass. Mit dem Unterschied, dass er zwar noch körperlich wächst, nicht aber geistig. Zugleich ist Jacques ein Fremder wie Joe. Auch er bringt Lebewesen dorthin, wo sie hingehören. Joe bringt Bösewichte in Särge. Jacques bricht nachts in ein Delfinarium ein und bringt den Delfin zurück ins Meer. Und seinem Freund Enzo das trügerische Gefühl, der beste Freitaucher der Welt zu sein.

Enzo braucht Jacques als seine sportliche Nemesis: Er ist Prosts Senna, Foremans Ali, Beckers Edberg. Der Ebenbürtige, den Enzo besiegen muss, um seine Größe zu begreifen. "Ich bin überzeugt, dass du mich schlagen möchtest", sagt Enzo zu Jacques, nachdem er ihn zum Wettbewerb überredet hat. Ein Irrglaube. "Wir sollten diesen Wettkampf vergessen", erwidert Jacques. "Wenn wir es nicht tun, werde ich dich besiegen." Das ist nicht der Trash-Talk eines Boxers. Er meint es exakt so. Jacques weiß, dass er länger und tiefer tauchen kann als Enzo. Er ist ja nicht von dieser Welt, eher Wal als Mensch. Ein Wissenschaftler hat ihm das bestätigt, nachdem er ihn beim Tauchgang verkabelt hat mit einem EKG: Wenn Jacques taucht, verringert er seinen Herzschlag und spart so Sauerstoff, wie es sonst nur Meeressäuger vermögen.

Jean-Marc Barr hatte Ende der Achtziger das perfekte Gesicht für die Rolle des Jacques: makellos, faltenfrei, seine großen Augen komplettierten das von Besson gewollte Kindchenschema. Allein in Frankreich wollten das 9,2 Millionen Kinobesucher sehen. "Plötzlich war ich Teenie-Idol und bekannt wie Micky Maus", sagte Barr Jahre später in einem Interview. So wie Micky Maus nie zu Kater Carlo wurde, blieb Jean-Marc Barr für immer Jacques Mayol. Ganz anders als Jean Reno, der seine lebenspralle Darbietung als Enzo in enger Badehose und noch engerem Shirt zum Auftakt einer Weltkarriere nutzte.

Bessons Film ist ein kleines Wunder. Nicht, weil er ohne Makel wäre. Sondern, weil er beim Zuschauer das Bedürfnis schafft, ihm seine erzählerischen Schwächen zu verzeihen. Der ganze Film ist wie Jacques. Er ist ein Kind, das gar nicht erst erwachsen werden will. Wagnis eines damals noch experimentierenden Regisseurs. Er ist überzeichnet, verträumt. In einer der irrsten Szenen zieht Jacques sein Portemonnaie hervor, klappt es auf. Im Innern ist an der Stelle, wo manche Menschen Bilder ihrer Kinder verstauen, das Foto eines Delfins zu sehen.

Jacques weint mit dem einen Gesichtsausdruck ohne Lächeln, den er hat. Er fragt Joana: "Welcher Mensch hat so eine Familie?" Natürlich niemand! Die Szene ist so verkitscht, dass es einen graust. Aber sie ist auch schnell wieder vergessen, weil der Zuschauer gleich wieder versinken kann in Bessons Meditation über das Meer. Diesem Bildersturm der Farbe blau, der im Kino niemals schöner, und ja: berauschender, zu sehen war als hier.

Was geschieht, wenn Freunde zu Rivalen werden? Jacques stellt sich dem Wettkampf mit Enzo, weil er spürt, dass dieser das Duell zum Überleben braucht. Als Enzo schließlich stirbt, hat Jacques keine Funktion mehr auf dieser Welt. Er bringt sich selbst dorthin zurück, wo er hingehört. In die Tiefe. Le Grand Bleu. Dorthin, wo kein Sonnenlicht mehr dringt, es nur noch Schwärze gibt. Und vor allem keine Menschen. Jacques ist müde vom Wettbewerb. Die Meerjungfrauen warten. Mit einem Rausch der Tiefe hat das nicht viel zu tun.

Le Grand Bleu (Im Rausch der Tiefe), Frankreich 1988, Regie Luc Besson

Bereits erschienene Rezensionen:

Platz 22: "Free Solo"

Platz 21: "Rush"

Platz 20: "Die nackte Kanone"

Platz 19: "Slap Shot"

Platz 18: "Foxcatcher"

Platz 17: "The Wrestler"

Platz 16: "Nowitzki. Der perfekte Wurf"

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