Als es am Mittwochabend endlich so weit ist und Lamine Diack vor die Richterin tritt - jener Mann, der jahrelang einer der einflussreichsten Figuren des olympischen Sports war, der in Frankreich zuletzt fünf zähe Jahre unter Hausarrest stand, während immer mehr finstere Vorwürfe gegen ihn ans Licht kamen -, als dieser Lamine Diack nun also das Wort ergreift, sorgt er erst einmal für Heiterkeit, vermutlich unfreiwillig. Er sei in Dakar geboren, "150 Meter vom Stadion weg", sagt er laut Beobachtern im Saal, "und auf der anderen Seite, da war das Gefängnis".
Das passt. Diacks Biografie, die seit dieser Woche vor der 32. Kammer des Pariser Finanzgerichtshofs verhandelt wird, steht ja seit Langem im Zeichen des Sports - und der Justiz. Der 87-Jährige saß seit 1976 im Rat des Leichtathletik-Weltverbands (ehemals IAAF), er war von 1999 bis 2015 dessen Präsident und auch Mitglied im Internationalen Olympischen Komitee (IOC). In dieser Zeit soll er eines der größten bekannten Betrugsnetze über den organisierten Sport gespannt haben: mit vertuschten Dopingtests, erpressten Athleten, an denen Diack knapp 3,5 Millionen Euro verdient haben soll, auch mit Stimmenkauf rund um die Sommerspiele 2016 und 2020. Dem Mann, der jahrelang in den Logen der Stadien Hof hielt, drohen zehn Jahre Gefängnis.
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Ebenfalls angeklagt im Palais de Justice: Diacks Sohn Papa Massata, langjähriger Marketingberater der IAAF; Diacks Anwalt Habib Cissé; Gabriel Dollé, viele Jahre Leiter des Anti-Doping-Ressorts im Verband. Und die russischen Funktionäre Walentin Balachnitschew und Alexej Melnikow, die sich dem Prozess aber entziehen, wie Diacks Sohn, den Senegal trotz internationaler Gesuche nicht ausliefert. Und auch wenn die anwesenden Angeklagten in den ersten Prozesstagen ihre Taten herunterspielen, verfestigt sich doch ein klares Bild: dass da ein Clan mit krimineller Verve nahezu alle moralischen und rechtlichen Fundamente unterwanderte.
Der Erste vor der Richterin ist Gabriel Dollé, 78, müde Augen, die auch hinter seiner blauen Schutzmaske sichtbar sind. Ein Kollege, so erzählt es Dollé selbst zu Beginn, habe ihn mal "den Ayatollah des Anti-Dopings" genannt: weil er so streng und unbestechlich (!) auftrat. Jetzt ist er angeklagt wegen passiver Korruption, er soll über Dopingfälle den Mantel der Vertuschung gelegt haben. Und Dollé streitet das auch gar nicht ab. Als Ende 2011 die Blutwerte von 23 russischen Athleten in hochverdächtige Regionen kletterten, habe Diack ihn gebeten, "einen Skandal zu vermeiden". Denn: Die Finanzlage des Verbandes sei nicht rosig, Olympia 2012 und die Moskauer WM 2013 standen an, der IAAF winkten Verträge mit russischen Firmen.
So kam es dann auch: Kontaminierte russische Athleten auf den Podien in London und Moskau, volle Kassen bei der IAAF. Dollé soll für sein Mitwirken rund 190 000 Euro kassiert haben. Was sonst so lief, habe er aber nicht gewusst, beteuert er in Paris: "Ich war ein Opfer meiner Verpflichtung zu Diack." Ein Opfer, das nur abgewogen habe zwischen den Regeln und dem "höheren Interesse des Sports". Dieses Interesse ist bis heute übrigens ein bekanntes Phänomen, nicht nur in der Leichtathletik: Solange der Sport sich selbst überwacht, zeigt er oft nur so viel vom Pharmaproblem, dass das Geschäft nicht zu sehr leidet.
Diacks erster Auftritt trägt zur Erheiterung bei
Habib Cissé, der Anwalt, spielt das Geschehen ebenfalls herunter. Man habe niemals Geld von Athleten erpresst, sagt Cissé, der alte Diack habe bloß einen "nicht-konfrontativen" Ansatz gegenüber den Russen gepflegt, wo es eine Dopingkultur gab - das schon. Doch als er mit belastenden Dokumenten konfrontiert wird, gerät auch Cissé ins Schlingern. Ermittler hatten in seinem Domizil eine Notiz des einstigen russischen Cheftrainers Melnikow gefunden. Darin wird ausführlich beschrieben, wie sich positiv getestete Athleten bei der IAAF eine "full protection" kaufen konnten - eine Art Versicherungsschutz gegen lästige Dopingverfolgung.
Diese Notiz, "La Note Melnikov", ist ein Herzstück der Ermittlungen, auf Seite 64 in der Anklageschrift. Papa Massata Diack ("P.D.", wie er in der Notiz heißt) und Habib Cissé ("H.B.") bewarben ihre Versicherungspolice demnach unter anderem im Juni 2012 vor den russischen Funktionären, "in einem Restaurant in der Nähe des Hotels Marriott Tverskaya": 700 000 Euro, um den Geher-Weltmeister Sergei Kirdjapkin freizukaufen, 600 000 für die Hindernisläuferin Julija Saripowa; später allein 450 000, damit die Marathonläuferin Lilija Schobuchowa bei Olympia 2012 starten darf. Schobuchowa flog dann trotzdem auf, sie erhielt ein Teil ihres Geldes über diverse Briefkastenfirmen zurück; das Ursprungskonto stand mit Papa Massata Diack in Verbindung. Dieser Handel, den die ARD 2014 öffentlich gemacht hatte, hatte den Skandal um das russische Staatsdoping erst losgetreten - auch die Ermittlungen, die nun in Paris verhandelt werden.
Als Cissé dort mit der Notiz konfrontiert wird, gibt er sich "sprachlos". Der Begriff "full protection" könne gar nicht von ihm stammen, er spreche ja nicht mal ein Wort Englisch. Die Richterin hält ihm dann einen SMS-Verkehr mit Papa Massata vor. Der bittet Cissé darin um die verbliebenen "50 000 Euro aus dem Schobuchowa-Fall". Cissé antwortet, dass er dafür noch Zeit benötige. Und nun? Nein, nein, beteuert der Anwalt im Gericht, er habe nie einen Cent von einer Frau Schobuchowa erhalten.
Der erste Auftritt des Hauptangeklagten am Mittwoch trägt zunächst auch nicht zur Erhellung bei. Nach der Gefängnisepisode lässt Diack, gekleidet in eine elegante weiße Tunika, einen wirren, 30-minütigen Exkurs darüber folgen, wie er die Leichtathletik populärer und globaler gemacht habe. Erst am Donnerstag äußert er sich zu den Vorwürfen. Die russischen Dopingfälle? Ja gut, die habe er verschleppen lassen. Das sei aber ein "Kompromiss" gewesen, welcher der "finanziellen Gesundheit" des Sports gedient habe. Sein Sohn? Ein voyou, ein Gauner, von dessen Umtrieben er erst von den Ermittlern erfahren habe. Und dass er selbst sich direkt an dem Dopingschutzprogramm bereichert habe? Das streitet der Patron weiter ab.
Das erste Fazit gerinnt aber schon am Donnerstag zur Gewissheit: Von der großen Verschwörung, die die Diacks stets zu ihren Lasten reklamiert hatten, ist wenig zu sehen. Vielmehr von Angeklagten, die sich weder dem Schutz von Athleten noch von grundsätzlichen Werten verpflichtet fühlten, sondern ihren Interessen. Der Prozess in Paris ist bis zum 18. Juni angesetzt, die Folgen werden wohl noch Jahre zu spüren sein - im Sport und in der Justiz.