Süddeutsche Zeitung

DFB-Elf gegen Türkei:Ausgleich in der 94. Minute

Die Nationalelf wartet im Jahr 2020 weiter auf einen Sieg: Beim 3:3 gegen die Türkei verspielt die personell stark veränderte Mannschaft gleich dreimal eine Führung - der Bundestrainer ist "angefressen".

Von Philipp Selldorf, Köln

Bei Familie Neuhaus in Kaufering im Kreis Landsberg am Lech war die Freude bestimmt groß. Ihr Bub, der Florian, durfte am Mittwochabend in Köln nachholen, was ihm vor vier Wochen in Stuttgart und Basel versagt geblieben war: Damals sah Bundestrainer Joachim Löw noch nicht die Stunde gekommen, um dem 23-jährigen Mittelfeldspieler den Einstand in der Nationalelf zu gewähren. Diesmal, beim unverbindlichen Treffen mit der Türkei, schon. Neuhaus besetzte die Mittelfeldzentrale, und wie man ihn bei Borussia Mönchengladbach kennt, ging er auch im Nationalteam weite Wege und bemühte sich um konstruktive Akzente.

Besonders konstruktiv war sein Spiel in der 58. Minute, als Neuhaus die zwischenzeitliche 2:1-Führung erzielte. Bevor ihn Löw wenig später auswechselte, wurde er beim türkischen 2:2 auch noch Opfer eines Justizirrtums - der Referee hatte ein klares Foul an ihm übersehen. Familie Neuhaus konnte dennoch stolz und zufrieden sein.

Jenseits von Kaufering sah man das womöglich etwas anders. Das Ergebnis von 3:3 verheißt mehr Spektakel als es in der eher unterklassigen Partie tatsächlich gab. Besonders ärgerlich aus deutscher Sicht: Dreimal hatte die Elf vorn gelegen, dreimal wurde sie wieder eingeholt, das dritte Mal in der vierten Minute der Nachspielzeit. Die Türken, die mehr Temperament ins Spiel brachten als die Gastgeber, hatten es sich verdient. Er sei "enttäuscht und angefressen", sagte Bundestrainer Löw bei RTL.

Waldschmidt trifft spät - aber die Türken lachen zuletzt

Nach dem 1:1 gegen Spanien und dem 1:1 in der Schweiz gab es für Löws Mannschaft somit auch im dritten Spiel der neuen Länderspielsaison ein Remis. Außer in Kaufering gab es zumindest in Mönchengladbach frohe Gesichter: Nach Neuhaus debütierten auch der Borusse Jonas Hofmann und der Ex-Gladbacher Mo Dahoud.

Diejenigen, die bis zum Pausenpfiff vor dem Fernseher dranblieben, benötigten dafür einen starken Willen und Durchhaltevermögen. Erst in der letzten Sekunde des ersten Durchgangs huschte ein Lächeln über das Gesicht des Bundestrainers. Julian Draxler hatte soeben auf feine Art das 1:0 geschossen. Das Tor war schön, das Spiel allerdings nicht. Wenig Tempo, wenig Spielfluss, wenig Glanz, darin bestanden die besonderen Merkmale des deutschen Auftritts. Freundschaftsspiele haben schon lange keinen guten Ruf mehr, vor allem dann, wenn sie tatsächlich im Geist der Freundschaft ausgetragen werden - und Millionen Menschen sich in ihren Wohnzimmern langweilen.

Deshalb ist der DFB seit längerem dazu übergegangen, Begegnungen ohne Pflichtcharakter als Testspiele zu deklarieren, das gibt der Sache einen ernsteren Anstrich. Diesmal jedoch war es ausdrücklich wieder ein Treffen in Freundschaft, das laut Generalsekretär Friedrich Curtius die deutsch-türkische Verbundenheit unterstreichen sollte. Neben deutschen wehten auch ein paar türkische Fähnchen unter den 300 handverlesenen Zuschauern auf der Tribüne in Köln. Der Bundestrainer hatte in Abwesenheit etlicher Stars nicht die 1A-Auswahl aufgeboten, aber wie versprochen eine Mannschaft mit Struktur formiert.

Neben Spielern, die wie der Neu-Leipziger Benjamin Henrichs oder der Dortmunder Nico Schulz zurzeit in ihren Klubs Gelegenheitsdarsteller sind, bildete Löw einen kreativen Schwerpunkt mit Julian Brandt, Kai Havertz und Draxler, der als Kapitän fungierte.

Diese Ehre schien ihn anzutreiben, er war zunächst einer der wenigen, der auffiel in einem ansonsten unauffälligen Ensemble. Dieses hatte indes keine Zeit zum Proben gehabt und vorher noch nie zusammengespielt. Technische Fehler, wie sie Schulz und Antonio Rüdiger immer wieder unterliefen, hatten damit aber nichts zu tun. Hinzu kam eine testspielgemäße Einsatzbereitschaft.

Die zweite Hälfte war besser als die erste, auf beiden Seiten kam Leben in die Offensive. Nico Schulz jedoch hatte durch ein fehlerhaftes Abspiel einigen Anteil am türkischen Ausgleich (50., Ozan Tufan). Nachdem Bernd Leno bei einem türkischen Angriff über Cengiz Ünder seine Faustabwehrqualitäten nachgewiesen und das 1:2 verhindert hatte, antwortete das DFB-Team mit dem gut herauskombinierten 2:1 durch Neuhaus.

Selbiger sah sich kaum zehn Minuten später im Mittelpunkt der Debatten. Sein Gegenspieler Karaca hatte ihn hemmungslos umgestoßen, der Schiedsrichter fand das jedoch in Ordnung und ließ Karaca den Ausgleich schießen. Die Deutschen protestierten vergeblich, wussten aber mit dem 3:2 durch Luka Waldschmidt noch einmal die richtige Antwort. Zuletzt gelacht haben dann aber doch die Türken.

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SZ vom 08.10.2020/ebc
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