Länderspiel Deutschland gegen Brasilien:Wer gewinnen will, muss schön spielen

Brasilien Nationalmannschaft - Training

Brasiliens Nationaltrainer Tite bringt den Brasilianern wieder Freude an ihrer Seleção.

(Foto: dpa)
  • Nach einigen sportlichen Durchhängern, kommt in Brasilien unter dem neuen Trainer Tite der Erfolg zurück und damit die Vorfreude auf die WM.
  • Die Weisheit des Trainers ist, dass man endlich wieder attraktiv nach vorne spielen soll.
  • Die neue Stärke der "Seleção" ist, dass sie weniger von Neymar abhängig ist.

Von Javier Cáceres und Boris Herrmann

Es ist derzeit nicht einfach, ein brasilianischer Patriot zu sein. Die Korruption blüht, die Wirtschaft schrumpft, die Gewalt nimmt zu, die Angst wächst, die Demokratie schwächelt, der Strom fällt aus, der Regenwald stirbt, Neymar ist verletzt. Das Land, das vor wenigen Jahren auf bestem Weg zu einer neuen globalen Supermacht zu sein schien, steckt in einer tiefen Sinnkrise. Und jetzt auch noch das Länderspiel gegen Deutschland.

Klar, dass da Erinnerungen hochkommen. Objektiv betrachtet, war es nur ein sehr verkorkstes Fußballspiel, sieben Gegentore im WM-Halbfinale 2014. Jeden Tag passiert deutlich Schlimmeres in Brasilien. Trotzdem hat wohl selten ein Ereignis das Selbstverständnis dieser Nation so angefressen wie dieses. Wenn es etwas gab, worauf sich die an unzähligen Fronten zerstrittenen Brasilianer einigen konnten, dann war es der Glaube an ihre Seleção. Bis zu diesem 1:7.

Der Mann, der das Spiel damals beim TV-Monopolisten Globo kommentierte, war Galvão Bueno. Seine Sätze, aus denen Bestürzung, Fassungslosigkeit und Scham sprachen, haben sich ins kollektive Gedächtnis eingebrannt. Das ist vergleichbar mit den Kommentaren des deutschen Radioreporters Herbert Zimmermann vom wundersamen WM-Finale 1954 in Bern, bloß halt negativ. Was bei Zimmerman der Rahn war, der aus dem Hintergrund schießen müsste, ist bei Galvão der Satz: "Eine große Mannschaft gegen einen Kindergarten." Dazu die sachliche Feststellung: "É o gol da Alemanha", Tor für Deutschland, sieben Mal. Globo hat hinterher im Netz eine sogenannte "Galvãothek" eingerichtet, da kann man die traurigsten Stellen bis in alle Ewigkeit anhören.

Mit Brasiliens Fußball geht es wieder aufwärts

Am vergangenen Freitag saß der berühmteste Sportreporter des Landes wieder einmal am Mikrofon, um über das Testländerspiel zwischen Brasilien und Russland in Moskau zu berichten. Die Seleção gewann gegen den kommenden WM-Gastgeber 3:0, ohne sich besonders anstrengen zu müssen. Und ohne Neymar. Am Ende der Übertragung sagte Galvão: "Schalten Sie auch am Dienstag wieder ein, wenn die beiden WM-Favoriten aufeinander treffen!" Deutschland gegen Brasilien also.

Es war das bislang deutlichste Signal, dass es mit dem brasilianischen Fußballpatriotismus ganz allmählich wieder aufwärts geht. Auf den Straßen und an den Stränden von Rio sieht man neuerdings auch mal wieder Menschen im kanariengelben Trikot, die keine asiatischen Touristen sind. Es wäre zu früh zu sagen, dass jene Seleção, die nach der Heim-WM 2014 allenfalls noch als Projektionsfläche für Hohn und Spott eine Rolle spielte, inzwischen wieder geliebt wird. Aber sie wird immerhin wieder ernst genommen. Und in diesem fernsehverrückten Land gilt die Regel: Wenn Galvão sagt, dass sie Weltmeister werden kann, dann muss es stimmen.

Der Mann, der die größte Fußballnation der Welt wieder zum Träumen gebracht hat, heißt weder Neymar noch Philippe Coutinho, Gabriel Jesus oder Marcelo. Sein Name ist Adenor Leonardo Bachi. Er ist 56 Jahre alt, grauhaarig, seriös, eher verschwiegen. Seine Familie stammt aus Caixas do Sul, nahe der Grenze zu Uruguay. Die Brasilianer nennen ihn Tite.

Wurde Tite zu spät berufen?

Im August 2016 wurde er zum Nationaltrainer berufen. Und wenn es an dieser Nominierung überhaupt Kritik gibt, dann bezieht sie sich stets darauf, dass sie zu spät kam. Der ehemalige Nationalspieler Zico, Brasiliens bester Fußballer der Achtzigerjahre und heute einer der führenden TV-Gurus, wurde immer mal wieder selbst als Kandidat für den Nationaltrainerposten gehandelt. Über Tite sagte er der SZ dieser Tage: "Brasilien hätte ihn schon unmittelbar nach der WM 2014 holen müssen."

Nach der WM wurde der glücklose Luiz Felipe Scolari aber zunächst durch den ehemaligen Stuttgarter Bundesligaprofi Carlos Dunga ersetzt. Zwei Jahre später befand sich die Seleção in einem fast noch erbärmlicheren Zustand. Der Kapitän der Weltmeister-Elf von 1994 hatte den angekündigten Neuaufbau komplett verschlafen. Bei der Copa América 2016 schied der Rekordweltmeister in der Vorrunde aus - in einer Gruppe mit Ecuador, Peru und Haiti. Auch die Qualifikation für die WM in Russland schien zu diesem Zeitpunkt ernsthaft in Gefahr zu sein.

Dann kam Tite. Und seither ist die Mannschaft kaum wiederzuerkennen. Nach einer Serie von zehn Siegen war Brasilien als erstes Team überhaupt für Russland sportlich qualifiziert. Zico schwärmt: "Tite ist ein fantastischer Trainer. Mit einer großen Kenntnis des Spiels. Und viel besser vorbereitet als Dunga. Für die Seleção war dieser Wechsel fundamental."

"Wer gewinnen will, muss schön Spielen"

Tite war im Gegensatz zu Dunga und Zico kein großer Fußballer. Seine Spielerkarriere endete früh und ruhmlos wegen eines kaputten Knies. Auch seine Trainerlaufbahn kam erst spät in Gang. Jahrelang tingelte er als Coach durch die südbrasilianische Provinz. Eine seiner Stärken ist, dass er sich selbst nicht zu wichtig nimmt. "Ich bin fast in jedem Job gefeuert worden, den ich hatte", sagte er neulich.

Sein exzellenter Ruf von heute gründet vor allem auf seiner 15. Trainerstation zwischen 2010 und 2013 bei Corinthians. Mit dem Verein aus São Paulo gewann er damals die Copa Libertadores, die Champions League Südamerikas, und die Klub-Weltmeisterschaft. Jetzt hat er seine Corinthians-Philosophie auf das Nationalteam übertragen. Sie lautet: Wer gewinnen will, muss schön spielen. Nach nichts anderem hatte sich das anspruchsvolle brasilianische Publikum so lange gesehnt.

Zico beschreibt es so: "Brasilien hat wieder ein mutiges, technisch feineres Team. Man sieht wieder Spielzüge, und das liegt daran, dass die Angst, Fehler zu begehen, verschwunden ist. Das ist der Kraft Tites geschuldet." Auf den ersten Blick sind die Reformen gar nicht so einfach zu erkennen. Im letzten Spiel unter Dunga (0:1 gegen Peru) standen sechs Spieler auf dem Platz, die auch beim 3:0 am Freitag gegen Russland dabei waren: Torwart Alisson, Dani Alves, Miranda, Renato Augusto, Willian und Coutinho. Die Seleção im Jahre 2018 ist ein Paradebeispiel für alle, die behaupten, der Trainer sei das wichtigste Mosaiksteinchen in diesem hochkomplexen Spiel.

Tite hat zunächst einmal das Kunststück vollbracht, den unter Dunga komplett frustrierten Neymar wieder für das kanariengelbe Leibchen zu begeistern - und zwar just damit, dass er die Abhängigkeit des Teams von seinem besten Spieler verringerte. Deshalb fällt dessen Verletzung jetzt auch weniger ins Gewicht als noch vor einigen Jahren, zum Beispiel beim 1:7 gegen Deutschland. Auch andere Frustrierte des 2014er-Teams hat Tite erfolgreich re-integriert, darunter die Verteidiger Dani Alves, Marcelo und Thiago Silva sowie allen voran Paulinho, der einen erstaunlichen Wandel vom Sündenbock zum torgefährlichsten Mittelfeldspieler Brasiliens hinter sich hat. Tite kennt und schätzt Paulinho noch aus der gemeinsamen Zeit bei Corinthians, genau wie Renato Augusto, der inzwischen in China kickt. Die beiden sind heute nicht von ungefähr so etwas wie Tites spielende Assistenztrainer.

Ein letzter Punkt, der im Bezug auf die allgemeine Stimmungslage nicht zu unterschätzen ist: Zwischen Dunga und dem Moderator Galvão hatte sich ein regelrechter Medienkrieg entwickelt. Tite bemühte sich von Anfang an um bessere Beziehungen zu dem wichtigsten Meinungsmacher im Fußballland. Auch deshalb geht Brasilien jetzt mit dem guten Gefühl ins WM-Jahr, dass es zur Not auch ohne den Nationalhelden Neymar in Russland bestehen könnte - weil es ja immer noch den Nationalhelden auf der Trainerbank gibt.

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