Die Antilope dürfte sich noch sicher fühlen, mit ihrer Spitzensprintgeschwindigkeit von 90 Kilometern in der Stunde, und daher natürlich auch der Gepard, der innerhalb von drei Sekunden auf bis zu 122 km/h beschleunigen kann. Auch die Brieftaube (72 km/h) darf erst einmal gelassen bleiben. Der Afrikanische Elefant dagegen oder der Eselspinguin müssten mit ihren 40 km/h schon auf einen guten Start hoffen. Die Küstenseeschwalbe dagegen müsste wohl auf ein Foto Finish vertrauen. Die Küstenseeschwalbe kommt auf eine Spitzengeschwindigkeit von knapp 35 km/h.
Eine Höchstgeschwindigkeit von 32,4 Kilometern pro Stunde gab die Fifa am Samstagabend an für die jüngst entdeckte Urkraft auf diesem Planeten, andere Quellen wollten sogar 38 km/h gemessen haben. So schnell war einst Usain Bolt im Durchschnitt auf seinem Weltrekordlauf über die 100 Meter 2009 in Berlin. Aber 32,4 oder 38 km/h, das spielte schon keine Rolle mehr. Kylian Mbappé war ohnehin so schnell unterwegs, dass von den anwesenden Menschen auf dem Fußballfeld von Kasan niemand mithalten konnte.
Zwei Tore erzielte der 19 Jahre Mbappé beim 4:3 (1:1) gegen Argentinien am frühen Samstagabend, aber dass er nun als das schnellste Versprechen des Weltfußballs gilt, verdankte er vor allem einer Szene in der elften Minute. Die Argentinier hatten in der Nähe des französischen Strafraums den Ball, dann rutschte Ever Banega der Ball unter der Sohle durch, direkt vor die Füße von Kylian Mbappé. Mbappé rannte los. Er beschleunigte so rasant, dass Banega nach wenigen Metern abgehängt war. Mbappé steigerte seine Geschwindigkeit so sehr, dass Javier Mascherano bald überlaufen war, ohne in die Nähe von Mbappés Raketenkörper zu kommen, den er, Mascherano, sonst liebend gerne aus dessen Flugbahn gerempelt hätte. Mbappé raste weiter. Gestoppt wurde er erst von Marcos Rojo, mit den Armen, den Händen, der Schulter, den Beinen, all das musste Rojo in Mbappé hineinwerfen, um ihn aufzuhalten. Die Rakete trudelte durch den Strafraum, landete auf dem Boden. Elfmeter, gelbe Karte für Rojo. Mbappé humpelte.
Antoine Griezmann traf vom Elfmeterpunkt zur frühen Führung, aber es war nicht sein Tor, das den Franzosen das Vertrauen in ihr Spiel gab. Es war Mbappés Sprint über fast 70 Meter gewesen.
Frankreich, das in der Vorrunde so müde, lahme, uninspirierte Auftritte abgeliefert hatte, erfand sich gegen Argentinien als Kontermannschaft neu. Sie überließen den Südamerikanern überwiegend den Ball, darauf zählend, dass der in den ersten drei Partien so poröse Angriff der Argentinier irgendwann den Ball hergeben werde. So kam es auch. Und dann rannte Mbappé los. "Wir wussten, dass sie schnelle Spieler haben", sagte Jorge Sampaoli, der glücklose Trainer der Argentinier, "wir haben diese Situationen analysiert, aber es ist etwas anderes, das auf einem Bildschirm zu sehen und dann auf dem Platz zu erleben. Fußball ist nicht Fußball auf Video."
Zu seinem ersten Sprint hatte Mbappé in der siebten Minute angesetzt, bevor er seine Spitzengeschwindigkeit erreichen konnte, hatte ihn Mascherano mit einer säbelartigen Grätsche aus der Flugbahn geschnitten. Dieses Muster wiederholte sich, in besagter elfter Minute, und auch in der 19. Minute, in der Nicolas Tagliafico die gelbe Karte sah, nachdem er Mbappé an der Strafraumkante ausgebremst hatte. In der ersten Halbzeit stoppten die Argentinier nur einmal mit im Regelwerk zugelassenen Mitteln den französischen Angreifer; in der 31. Minute streckte Tagliafico sein Bein aus, und so fing er den Ball ab. Allerdings musste er sich in dieser Szene auch nicht in einem Sprintduell mit Mbappé messen, sondern in einem Dribbling im Gewimmel im Strafraums.
In der zweiten Halbzeit demonstrierte dieser französische Wunderläufer, dass er seine Schnelligkeit auch mit Präzision versehen kann. Beim 3:2 der Franzosen schoss er den Ball wuchtig aus kurzer Distanz ins Tor (62.), vor dem 4:2 hatte sich die Geschwindigkeit des einen auf alle anderen übertragen, von Torwart Hugo Lloris spielte das Team den Ball schnell nach vorne, über fünf Stationen. Als vorletzter berührte Olivier Giroud den Ball einmal, passte ihn dabei zu Mbappé, dem reichte eine weitere, letzte Berührung für das Tor.
Der Samstagabend in Kasan war nicht die Entdeckung von Mbabbés Schnelligkeit, er hatte sie auch vergangenes Jahr für Paris Saint-Germain vorgeführt, unter anderem bei jenem 3:0 gegen den FC Bayern Ende September, der danach entlassene Carlo Ancelotti wird sich vielleicht erinnern. Doch in diesem Achtelfinale gegen die Argentinier nutzte Mbappé erstmals eine große Bühne. Er selbst erfuhr anschließend von den Journalisten, dass der große Brasilianer Pelé der letzte Teenager gewesen sei, der bei einer WM einen Doppelpack in einem K.o.-Rundenspiel erzielt habe, 1958 war das. Mbappé lachte. Pelé, sagte er, das sei schon "eine andere Liga".
Im Internet kursierten anschließend Fotos des noch jüngeren Mbappé, gemeinsam mit dem früheren, ebenfalls schnellen aber nicht ganz so schnellen Franzosen Thierry Henry oder mit Cristiano Ronaldo; auch ein Foto von Mbappé in seinem Jugendzimmer tauchte auf, die Wände tapeziert mit Ronaldo-Postern. Trainer Didier Deschamps wurde dagegen auf einen anderen Ronaldo angesprochen, auf den brasilianischen, den Deschamps selbst erlebt hatte, in den 1990er Jahren. Damals galt Ronaldo als ein Geschwindigkeitsphänomen. Deschamps lächelte diesen Vergleich weg. "Ich bin froh, dass er Franzose ist", sagte der über Mbappé, "er hat all sein Talent in einem wichtigen Spiel gezeigt. Aber er hat noch Raum, um sich zu verbessern."
Der Eselspinguin und der Afrikanische Elefant werden es mit Entsetzen gehört haben.