Es ist schon häufiger vorgekommen, dass Stefan Kuntz die Geschehnisse auf einem Fußballplatz sentimental werden ließen, doch die Szenen vom Montagabend im kleinen Stadion in Riga, nach einem 2:1-Sieg der Türkei gegen Lettland, waren anders. Kuntz, der türkische Nationaltrainer, verbarg sein Gesicht mit der Hand, schien in seiner Jacke verschwinden zu wollen, stützte sich auf den Knien ab. Er wurde gedrückt und getätschelt, er atmete tief durch - und musste trotzdem weiter weinen. "Ich bin stolz auf meine Mannschaft", sagte er später, als die Tränen getrocknet waren. "Sie haben niemals aufgegeben." Er habe gespürt, dass da "etwas zusammenwächst".
Der ehemalige Nationalspieler, das gehört zur Vorgeschichte, war als Trainer zum ersten Mal auf großer Bühne bereits 2017 zu Tränen gerührt, bei seiner ersten Europameisterschaft als deutscher U21-Coach. "Sie können nur Emotionen rüberbringen, wenn Sie auch selbst emotional sind", sagte er damals, nach einem gewonnen Elfmeterschießen gegen England im Halbfinale.
Kuntz ist ein emotionaler Typ, der gut ankommt
Es folgte der Turniersieg. Er kämpfte auch nach dem Finaleinzug bei seiner zweiten EM 2019 mit den Tränen, genauso wie 2021, nach seinem zweiten Titelgewinn. "Da war wirklich Tränengefahr. Das ging mir extrem unter die Haut", sagte er nach dem Empfang in der DFB-Zentrale.
Kuntz, 58, ist also ein außergewöhnlich emotionaler Trainer, seine einfühlsame Art, mit der er Spieler begeistern kann, gehört zu seinen großen Stärken, mit denen er sich schließlich in diesem Sommer für den Job als Coach der türkischen Nationalmannschaft qualifizierte. Und in der Arbeit mit seinem neuen Team hat es nun nur zwei Spiele gedauert, bis Kuntz weinte. In Lettland gelang der Mannschaft unter ihm der erste Sieg, der die zarten Hoffnungen auf die Qualifikation für die Weltmeisterschaft in Katar am Leben erhält.
Doch es war natürlich nicht irgendein Sieg. Es war ein 2:1 nach 0:1-Rückstand, das erst ein Elfmeter entschied, nach einem Foul in der fünften Minute der Nachspielzeit, obwohl nur vier angezeigt waren. Schiedsrichter Andreas Ekberg pfiff zunächst nicht, schaute sich die Szene dann nach Rücksprache mit dem deutschen Videoschiedsrichter Daniel Siebert in der siebten Minute der Nachspielzeit noch mal an und entschied in der achten, dass der türkische Stürmer Burak Yilmaz im Strafraum gefoult worden war. Ein vertretbarer Entschluss. In der neunten Minute der Nachspielzeit trat Yilmaz, 36, selbst an - und traf.
Seit dreieinhalb Wochen ist Kuntz nun Trainer in der Türkei, es soll eine langfristige Zusammenarbeit werden, sein Vertrag läuft bis zur EM 2024. Doch auch wenn die Lage des Teams in der WM-Qualifikation schon vor seinem Arbeitsbeginn misslich war und die Mannschaft unter seinem Vorgänger Senol Günes den Niederlanden 1:6 unterlag, wird von ihm auch kurzfristiger Erfolg erwartet. Die Sportzeitung Fanatik titelte nach dem 1:1 gegen Norwegen in der vergangenen Woche zu Kuntz' Einstand gleich mal: "Der deutsche Impfstoff hat nicht gewirkt."
Seit dem Remis gegen den Tabellenzweiten ist die Qualifikation für die Türken nicht mehr aus eigener Kraft möglich, es braucht dafür neben eigenen Siegen eine Niederlage der Norweger, die immerhin am letzten Spieltag noch beim Tabellenführer Niederlande antreten. Mit einem Unentschieden in Lettland wäre auch diese Hoffnung vergeblich gewesen. Nun beträgt der Rückstand des Dritten Türkei auf Rang zwei weiterhin zwei Punkte. "Wir haben noch Hoffnung", schrieb Hürriyet. Und in der Sportzeitung Fotomac hieß es: "Kuntz braucht Zeit und Geduld." Etwas Kritik war aber auch wieder zu lesen: "In nur zwei Spielen hätte er dennoch die Aufstellung, die Spielerauswahl, die Spielzüge verändern und seinen Unterschied zeigen können."
Auch Kuntz sprach nach dem Spiel nicht nur über Positives. "Es war nicht alles gut, es gibt viel zu verbessern", sagte er. Doch etwas anderes dürfte überwiegen: die Emotionen. "Es waren nicht nur drei Punkte, es war auch wichtig für die Mentalität", sagte er. Der gebürtige Neunkirchner erzählte, er habe aus seiner "Heimatstadt gehört, dass es von türkischen Fans einen Autokorso auf den Straßen gab." Kuntz glaubt: "Die Beziehung zwischen dem Team und den Fans heilt langsam."