Kroatien:Kurz vor dem Faserriss

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Die Kroaten stehen nach zwei Erfolgen im Elfmeterschießen erstmals seit 1998 im Halbfinale. Gegner England dürfte sie weniger sorgen als die eigene Konstitution.

Von Javier Cáceres, Sotschi

Davor Suker war der Erste, der die kroatische Kabine verließ. Und es war nicht klar, ob er besoffen war vor Glück oder wegen des Wodkas, den er in der Nachspielzeit vernichtet hatte, als ihm die Anspannung des Viertelfinales gegen Russland zu groß geworden war.

"Als es 2:1 für uns stand, habe ich erst einmal einen Wodka getrunken. Für das Herz", sagte er, und spielte mit dem Spielball, den er sich als Andenken an einen nerven- und kraftraubenden Abend gesichert hatte. Was dem Präsidenten des kroatischen Verbandes auch immer den Rausch verursacht hatte, er war noch immer ein Gefangener der Emotionen. Und während ihm Mikrofone unter das Kinn gehalten wurden, schloss er immer wieder die Augen, als wollte er beim Gedanken an das Spiel, das er gerade gesehen hatte, die Tränen unterdrücken.

Es war am Ende auch ein Film des Terrors: Fünf Minuten vor dem Ende der Verlängerung glichen die Russen noch zum 2:2 aus, dann folgte das Drama des Elfmeterschießens, in dem Kroatien 4:3 gewann. Die Kroaten standen damit zum zweiten Mal nach 1998, als sie mit dem Stürmer Davor Suker unter anderem Deutschland besiegten, im Halbfinale einer WM - und treffen nun am Mittwoch in Moskau auf England, den Weltmeister von 1966.

In Sotschi war es wieder Ivan Rakitic gewesen, der den letzten, entscheidenden Elfmeter verwandelte. So wie gegen Dänemark, als der frühere Schalker und heutige Profi des FC Barcelona ebenfalls als fünfter Schütze auserkoren worden war - und verwandelte. Gegen Igor Akinfejew, den russischen Torwart, der gegen Spanien im Achtelfinale drei Elfmeter gehalten hatte, entschied sich Rakitic für die linke Ecke und verwandelte sicher. Aufhebens wollte er darum nicht machen. "Einer muss ja schießen. . .", sagte Rakitic und lächelte. Nach einem Kampf seiner Kroaten gegen die Russen und gegen ihre eigenen Körper.

Beide Mannschaften hatten die Verlängerungen aus dem Achtelfinale in den Knochen. Aber nur bei den Kroaten war die Müdigkeit augenscheinlich. Am Ende wirkte die Partie wie eine von Goya gemalte Schlacht, mit lauter kroatischen Märtyrern, die wie Mario Mandzukic nach dem letzten Sprint im Strafraum der Russen nur noch am Boden liegen konnten oder gleich nach den Sanitätern riefen.

Rechtsverteidiger Sime Vrsalkjo etwa musste in der Verlängerung ausgewechselt werden - und richtete damit alle Augen auf Torwart Danijel Subasic, der, wie man später erfuhr, angeschlagen ins Spiel gegangen war. Kurz vor dem Ende der regulären Spielzeit hatte Subasic aufgeschrien, weil die Fasern des rechten Oberschenkels zu reißen drohten. In der Verlängerung schrie er wieder, als er nach einer Flanke sprang. Und Kroatien hatte vor dem drohenden Elfmeterschießen alle möglichen Wechsel aufgebraucht.

Subasic hielt durch und wurde, neben Rakitic, zum Heroen der Kroaten. Denn er hielt den ersten Strafstoß von Fedor Smolow; der eingebürgerte Brasilianer Mário Fernandes schoss später vorbei. Die Kroaten hingegen verwandelten alle ihre Elfmeter, mit Ausnahme von Mateo Kovacic. "Unsere Spieler hatten die Ruhe und die Klasse, das zu machen", sagte Kroatiens Assistenztrainer, der frühere Bundesligaprofi Ivica Olic, der in gleicher Weise erschöpft zu sein schien wie Kapitän Luka Modric. Er hatte den Eckball geschlagen, den Domagoj Vida (101.) in der Verlängerung per Kopf zum 2:1 verwandelt hatte und den Mário Fernandes (115.) doch noch ausglich. Zuvor hatten Denis Tscheryschew (31.) für Russland und der Hoffenheimer Andrej Kramaric (39.) für Kroatien getroffen.

"Ich bin müde. Aber glücklich. Und stolz auf diesen Erfolg", sagte Modric. Vida hingegen sorgte mit einer Provokation gegenüber den ausgeschiedenen Gastgebern für Wirbel. In einem Video jubelte er kurz nach dem Spiel in der Nacht auf Sonntag: "Ehre für die Ukraine!" Sein Kollege Ognjen Vukojevic ergänzte: "Das ist ein Sieg für Dynamo und für die Ukraine." Die Fifa verwarnte ihn daraufhin am Sonntagabend. Vida, der bis Ende 2017 vier Jahre lang für den ukrainischen Erstligisten Dynamo Kiew spielte, erklärte später, es handle sich bei dem Video "um einen Witz". Das habe "gar nichts mit Politik zu tun", sagte der frühere Leverkusener dem russischen Sportportal sports.ru. Er habe in Kiew noch Freunde.

Dass die Kroaten nun in Moskau auf die Engländer treffen, dürfte sie weniger sorgen als die eigene Konstitution; vier Tage der Regeneration sind knapp bemessen. "Aber ich sehe in den Augen dieser Spieler, dass sie bereit sind. Sie erinnern mich an 1998, als wir auch an diesem Punkt angelangt waren. Es wäre schön, wenn sie uns in den Schatten stellen und ins Finale einziehen", sagte der Verbandspräsident.

Es gibt kaum einen Spieler der aktuellen Generation, der den Viertelfinalsieg gegen Deutschland nicht vor Augen hätte, zu ihnen zählt auch Rakitic. "Das war beeindruckend, aber wir wollen unsere eigene Geschichte schreiben", erklärte er. Der Respekt vor der englischen Mannschaft ist im kroatischen Lager allerdings immens. "Ich würde mir wünschen, dass sie in der Tradition der englischen Mannschaften von früher stehen würde. Aber das aktuelle Team belässt den Ball am Boden und spielt nicht mehr in den Wolken", sagte Suker. Nur auf einen Finalsieg wollte er sich nicht festnageln lassen. Frei von Träumen sind die Kroaten freilich nicht. "Dies ist schon eine etwas verrückte WM", sagte Rakitic; es klang, als hoffte er, dass das Turnier einen kroatischen Überraschungssieger bereithält.

© SZ vom 09.07.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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