Kroatien bei der Fußball-WM:Mit zwei Leben und drei Lungen

  • Kroatien macht erstmals den Einzug ins WM-Finale perfekt. Dort trifft die Mannschaft am Sonntag (17 Uhr) auf Frankreich.
  • Im Finale wollen die Spieler eine alte Rechnung begleichen.
  • Hier geht es zum Spielplan der Fußball-WM.

Von Martin Schneider, Moskau

Zagreb eskalierte dem Ereignis entsprechend angemessen, man konnte auf den Videos das ein oder andere bengalische Feuer sehen, mancher autofahrende Kroate hupte euphorisch und von den 4,2 Millionen Einwohnern des nun zweitkleinsten Landes der Geschichte, das je ein WM-Finale erreichte (nach Uruguay), waren wahrscheinlich ungefähr 4,2 Millionen auf der Straße. Abzüglich derer, die in Moskau im Luschniki-Stadion mit ihrer Mannschaft feierten.

Der kroatische TV-Kommentator beschrieb den 2:1-Sieg gegen England als "Wunder aller Wunder" und Dejan Lovren, der Verteidiger des FC Liverpool meinte: "Das ist etwas Historisches. Jetzt haben wir die Chance, etwas noch Größeres zu schaffen."

Kroatien ist die Mannschaft mit den drei Lungen

Zwanzig Jahre nach dem Halbfinal-Einzug bei der WM in Frankreich ist die Mannschaft mit den karierten Trikots noch einen Schritt weitergegangen und natürlich hatte der kroatische Kommentator unrecht. Ein Wunder war es nicht. Es war schon sehr verdient, dass Kroatien diese vom Teamgeist beseelte englische Mannschaft nach Hause schickte. Dafür verantwortlich wie schon im Achtelfinale gegen Dänemark und im Viertelfinale gegen Russland: eine Energieleistung in der Verlängerung. In den Runden davor brauchte es noch das Elfmeterschießen, diesmal entschied Mario Mandzukic das Spiel in der Verlängerung. Beim Jubeln begruben er und seine Teamkollegen einen mexikanischen Fotografen unter sich.

Kroatien ist die Mannschaft mit den drei Lungen und den zwei Leben. Denn bei jedem K.-o.-Spiel waren sie nicht nur die Überstundenmeister, nein, sie drehten auch in jedem Spiel einen Rückstand. Kroatien kommt häufiger zurück als jeder Bumerang.

"Die englischen TV-Journalisten haben vorher berichtet, wir seien müde und stehend k. o.", sagte Luka Modric: "Das gab uns mehr Motivation, um ihnen zu beweisen, dass sie falsch liegen. Man kann nicht müde sein, wenn so viel auf dem Spiel steht." Erst in der Verlängerung wechselte Trainer Zlatko Dalic zum ersten Mal (und später dann noch drei Mal).

Hinterher sagte er: "Ich wollte auswechseln, aber keiner wollte runter. Zwei Spieler haben mit einem halben Bein gespielt. Ich bin so stolz, keiner hat aufgegeben." Seine ganze Mannschaft hat nun drei mal 30 Minuten - also ein ganzes Spiel - mehr in den Knochen als Gegner Frankreich am Sonntag. Und einen Tag weniger Regeneration.

Fast hätte Kroatien die WM sogar verpasst

Aber so profane Dinge wie Erholungszeit scheinen zu verschwimmen, wenn man den kroatischen Spielern und ihrem Trainer so zuhörte. Dalic hatte das Team ja im Oktober 2017 mitten in der Qualifikation übernommen, als es hinter Island auf Platz zwei lag und die seriöse Gefahr bestand, dass sie gar nicht zur WM fahren. Erst ein 2:0 in Kiew über die Ukraine sicherte Kroatien den Platz in der Relegation und damit das WM-Ticket. "Keiner hat uns vor dieser Weltmeisterschaft eine Chance gegeben. Aber zusammen und mit Kampfgeist haben wir es bis ins Finale geschafft", sagte Modric: "Nach Argentinien war das unser bestes Spiel. Wir waren technisch und physisch überlegen."

Modric, wenngleich gegen England ausnahmsweise mal nicht dominierend brillant (dafür überzeugte Marcelo Brozovic), ist der herausragende Akteur einer Mannschaft, die mit ihrer Einwohnerzahl unter ungefähr genauso vielen Fußballern auswählen kann wie Berlin. Vorne hat Dalic mit Mandzukic, dem Frankfurter Ante Rebic und dem Torschützen Ivan Perisic Durchschlagskraft, im Mittelfeld mit Modric und Ivan Rakitic Spielkultur aus Madrid und Barcelona - die Abwehr organisiert Dejan Lovren, der mit Liverpool im Champions-League-Finale stand. Diese Mannschaft ist schon lange zusammen, hat schon lange das Potenzial für viel mehr - aber bei der Europameisterschaft in Frankreich scheiterte man im Achtelfinale an der destruktiven Spielweise des späteren Gewinners Portugal.

Jetzt kommt Frankreich, der Gegner, der Kroatien vor 20 Jahren mit 2:1 im Halbfinale besiegte. "Jeder erinnert sich in Kroatien an dieses Spiel", sagte Dalic: "Vielleicht hat uns der liebe Gott ja die Möglichkeit gegeben, dieses Ergebnis zurechtzurücken." Rakitic sagte im ZDF, der kroatische Verbandspräsident Davor Suker werde die Mannschaft vielleicht noch mal extra motivieren, er stand 1998 als Stürmer für Kroatien auf dem Platz.

Und der Ex-Dortmunder Ivan Perisic, der nach Mandzukic (Ex-Bayern, Ex-Wolfsburg), Rakitic (Ex-Schalke), Ante Rebic (Frankfurt) und Andrej Kramaric (Hoffenheim) übrigens fünfte Akteur mit Bundesliga-Erfahrung, der mit einem Scherenschlag über dem Kopf von Kyle Walker den Ausgleich erzielte und das Match schon in der regulären Spielzeit hätte entscheiden können, sagte: "Wir können das Finale nicht abwarten. Wir haben nichts zu verlieren."

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