Krise der NFL:"Football? Bist du wahnsinnig?"
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Leere Stadien, sinkende Einschaltquoten: Der Nationalsport sollte der gemeinsame Nenner für viele Amerikaner sein - aber Konsens ist in den USA gerade nicht so angesagt.
Von Jürgen Schmieder, Los Angeles
"Verdammtes Arschloch!" Bei der Wortwahl in Sektion 18L in diesem Stadion, das alle nur Coliseum nennen, gibt es nichts, das aufgrund politischer Korrektheit oder anwesender Kinder verpönt oder gar verboten wäre. Es ist Heiliger Abend, die Los Angeles Rams spielen gegen die San Francisco 49ers. Die Menschen in diesem Block tragen Rams-Trikots und Hörner-Hüte und hässliche Weihnachtspullis, sie schimpfen über die Preise fürs Bier (13 Dollar für 0,4 Liter) und auf die Footballspieler auf dem Rasen. Gegnerische Akteure werden mit despektierlichen Begriffen für weibliche Geschlechtsmerkmale bedacht. Ein Spieler, der nach einem Zusammenstoß nicht schnell genug aufsteht, wird "Schwuchtel" genannt. Die Schiedsrichter heißen "blinde Schweine".
Das verdammte Arschloch, das ist für die Zuschauer in diesem Block 49ers-Spielmacher Colin Kaepernick. Der kniet mal wieder, während vor der Partie die amerikanische Nationalhymne gespielt wird, er protestiert damit seit Saisonbeginn gegen Polizeigewalt gegenüber Afroamerikanern. "Hoffentlich haut diesem verdammten Arschloch heute jemand die Kniescheibe raus", sagt einer im Block 18L. Die anderen nicken zustimmend. Auf dem sozialen Netzwerk Twitter werden Kaepernick diverse Verletzungen gewünscht, er wird dort nicht nur "Arschloch" genannt, sondern manchmal auch "Nigger". Noch einmal: Es ist Heiliger Abend.
Football ist einer der wenigen gemeinsamen Nenner, die es in den Vereinigten Staaten noch gibt. Das Endspiel der vergangenen Saison, den "Super Bowl 50", sahen in diesem Land 167 Millionen Leute, das entsprach einem TV-Marktanteil von 72 Prozent. Die Amerikaner behaupten derzeit gerne, dass sie mehr vereinen als trennen würde. Das ist Unsinn. In den meisten Lebensbereichen ist dieses Land in zwei Hälften gebrochen, deren Einwohner nichts mehr verbindet außer die tiefe Verachtung füreinander. Auf Football jedoch können sich die Amerikaner einigen, an jedem verdammten Sonntag von August bis Februar. Sie betrinken sich vor den Stadien, in Bars oder auch daheim, und dann brüllen sie einen Tag lang alles hinaus, was sich in der Woche davor angestaut hat und was das Schimpfwort-Vokabular so hergibt.
50 Regeländerungen, die den Sport weniger martialisch daherkommen lassen
Doch wenn die Amerikaner diesen Sport so lieben, warum ist das Stadion der LA Rams nur zu zwei Dritteln gefüllt? Warum sind die Einschaltquoten der Profiliga NFL in dieser Saison um durchschnittlich 13 Prozent gesunken? Warum ist die Zahl der Jugendlichen, die Football spielen, seit sieben Jahren um mehr als 14 Prozent zurückgegangen? Was ist da los?
Wer nach Gründen sucht, der muss sich mit Roger Goodell beschäftigen. Der ist seit zehn Jahren Chef der NFL - und in der für einen Sportfunktionär gar wunderbaren Lage, dass er nicht so tun muss, als sei Geldverdienen ein notwendiges Übel des Spektakels. Goodell hat als Angestellter aller Vereinsbesitzer, denen die Liga gehört, im Jahr 2010 versprochen, die Einnahmen von damals 8,5 Milliarden bis zum Jahr 2027 auf 25 Milliarden Dollar zu steigern. In dieser Saison dürfte die NFL mehr als 13,5 Milliarden Dollar einnehmen, zum Vergleich: Die deutsche Fußball-Bundesliga schaffte in der Spielzeit 2014/15 einen Gesamtumsatz von umgerechnet 2,84 Milliarden Dollar. Kaum jemand zweifelt daran, dass Goodell sein Ziel erreichen kann. Die Frage ist jedoch, wie er das Ziel erreichen will - und ob sich die Amerikaner auch deshalb von ihrem Nationalsport distanzieren.
Goodell hat vor der aktuellen Saison die Rams aus St. Louis zurück nach Los Angeles geholt und dafür gesorgt, dass nun im Süden der Stadt für 2,6 Milliarden Dollar die teuerste Sportarena des Planeten gebaut wird. Er lässt in dieser Saison drei Spiele in London ausgetragen und eines in Mexiko City, in der kommenden Spielzeit werden es vier Partien in England und eine in Mexiko sein. Er will nach Las Vegas, Südamerika und Europa expandieren und die reguläre Saison gerne auf 18 Partien (bisher 16) verlängern. Und jetzt wird auf den Tribünen eben darüber diskutiert, welche Maßnahmen die Suche nach dem Besten gerechter, spannender, sehenswerter machen - und welche nur die Einnahmen erhöhen sollen.
Was Goodell noch eingeführt hat, nach zähen Verhandlungen mit der Spielerunion NFLPA: insgesamt 50 Regeländerungen, die den Sport weniger martialisch daherkommen lassen, und die, um es mal konkret zu machen, die Lebenserwartung der Spieler steigern sollen. Zahlreiche Studien haben einen Zusammenhang zwischen Football und gravierenden Kopfverletzungen hergestellt, der sich nicht mehr leugnen ließ. Die NFL hatte sich vor drei Jahren außergerichtlich mit ehemaligen Spielern geeinigt, sie wird bis zu einer Milliarde Dollar bezahlen, muss dafür aber keine Verantwortung für vergangene Verletzungen übernehmen - und auch nicht formal zugeben, dass diese Erkrankungen durch Football hervorgerufen werden. Die NFL hat sich freigekauft. Für die Zukunft wird sie sich aber verantworten müssen. Also rühmt sie sich nun dafür, den Sport sicherer gemacht zu haben. Korrekter: weniger gefährlich als früher.
Football war jahrelang eine ziemlich darwinistische Angelegenheit. Der Stärkere überlebt, den Titel gewinnt oftmals nicht die Mannschaft mit den besten Akteuren, sondern die mit den wenigsten Verletzungen. Kaepernick übersteht die Partie in Los Angeles ohne Verletzung, zur gleichen Zeit bricht sich der Quarterback der Oakland Raiders, Derek Carr, in Indianapolis den rechten Fuß und fällt für den Rest der Saison aus. Aus einem Titelkandidaten wird mit einem Schlag ein Außenseiter. Solche Verletzungen will Goodell möglichst verhindern. Er möchte, dass beim Endspiel im Februar die Besten auf dem Feld stehen, nicht Ersatzspieler, die sich auf dem Zahnfleisch ins Stadion schleppen. Er hat diesen Sport weniger gefährlich gemacht, dadurch aber auch weniger aufregend. Auf dem Spielfeld im Coliseum gibt es kein Gemetzel, es wird hin und wieder einer umgerissen. Das gefällt nicht jedem.
Goodell ist bei den Menschen in Block 18L so beliebt wie eine Mischung aus Kaepernick, dem Schiedsrichter und einem Spieler, der nach einem Zusammenprall nicht schnell genug wieder aufsteht. "Der Typ hat diesen schönen Sport kaputt gemacht! Schau' dir doch diese Partie an, das hat mit Football nichts mehr zu tun", sagt der, der Kaepernick vorhin eine Knieverletzung gewünscht hat. Er heißt Joe, arbeitet im Management einer Bank und hat früher in diesem Stadion für die University of Southern California gespielt: "Jeder Körperkontakt ist gleich ein Foul, weil diese Weicheier Angst haben um ihre kostbaren Körper. Dann kann ich mir auch Frauenfootball ansehen."
Football war halt mal ein Männersport. Mittlerweile gibt es Frauen, die Football spielen. Professionell sogar - in der Legends Football League, die ihre Spiele im Frühling und Sommer austrägt, wenn die Männer die Verletzungen der Vorsaison kurieren. Die Vereine haben solch prächtige Namen wie Bliss (Glückseligkeit), Desire (Sehnsucht), Temptation (Versuchung), die Spielerinnen tragen zwar Helme und Schulterpolster, ansonsten aber nicht mehr als das, was die Models in der Bikini-Ausgabe der Zeitschrift Sports Illustrated anhaben.
Das Gegenteil von Liebe ist Gleichgültigkeit. Wer allen gefallen will, wird beliebig.
Joe ist ein Fan von Frauenfootball, er hat eine Dauerkarte für die Partien von Los Angeles Temptation: "Ich gehe wegen dem Sport ins Stadion." Er sagt das so wie jemand, der behauptet, dass er die Bikini-Ausgabe von Sports Illustrated wegen der Artikel kauft.
Als sich Joe zu Beginn des letzten Viertels - die Rams führen 21:7 - ein neues Bier holen will (er wird keins bekommen, weil der Ausschank zum Ende des dritten Spielabschnitts beendet wird), berichtet seine Frau von den fünf Enkelsöhnen, allesamt talentierte Sportler. "Kein einziger spielt Football", sagt sie: "Bist du wahnsinnig? Viel zu gefährlich! Es gibt Disziplinen, die geeigneter sind für junge Menschen: Basketball, Baseball - selbst Fußball."
In diesem Moment, bei diesem Spiel am Heiligen Abend, in Block 18L, da zeigt sich das Problem der NFL: Beim Versuch, diese Liga zum gemeinsamen Nenner für möglichst viele Amerikaner zu machen, hat Goodell genau das Gegenteil erreicht, weil es in diesem Land offenbar keinen gemeinsamen Nenner mehr geben darf. Die einen halten Football für eine grausame und gefährliche Sportart und verbieten ihren Enkeln die Teilnahme an diesem Gemetzel. Die anderen halten den Sport für verweichlicht und wenden sich deshalb Disziplinen wie der Ultimate Fighting Championship zu, bei der sich die Teilnehmer hemmungsarm malträtieren. Oder eben der Frauenliga, deren Spielerinnen wenigstens dürftiger bekleidet sind als die Cheerleader der LA Rams an der Seitenlinie.
Gäbe es zwei extreme Ligen, eine mit den martialischen Regeln aus den Achtzigerjahren, eine mit eingeschränktem Körperkontakt, wäre jede für sich wohl äußert erfolgreich. Eine Kompromissliga jedoch wirkt wie ein Amerikaner, der sagt, dass er sowohl Donald Trump als auch Hillary Clinton mag. Das Gegenteil von Liebe ist nicht Hass. Das Gegenteil von Liebe ist Gleichgültigkeit. Wer allen gefallen will, wird beliebig und gefällt niemandem mehr. Goodell riskiert, dass den Menschen dieser Sport gleichgültig wird. Die NFL konkurriert mit Baseball, Basketball und dem Emporkömmling Fußball um die Zuneigung im Volk, das durch Kauf- und Sehverhalten bestimmt, wer überleben wird.
Es gibt beim Football keinen übergeordneten Verband, Goodell kann autonom und schnell entscheiden. Er gibt gerne den Buhmann, so lange die Vereinsbesitzer mit den Einnahmen zufrieden sind und ihm weiterhin mehr als 30 Millionen Dollar Jahressalär bezahlen. Er könnte die reguläre Saison nur auf 17 Partien erhöhen, er könnte 16 Partien in Europa austragen (jeder der 32 Vereine müsste einmal über den Atlantik fliegen) und müsste dann keinen eigenen Klub im Ausland gründen. Er könnte Verhandlungen mit den Herstellern von Schutzbekleidung forcieren und dann wieder heftigere Zusammenstöße erlauben. Goodell ist kein Redner, er ist ein Macher. "Wir suchen nicht nach Entschuldigungen", kommentiert er den Einbruch der Einschaltquoten: "Wir suchen nach Lösungen."
Make Football Great Again. Das kann klappen, auch das wird am Heiligen Abend in diesem Stadion von Los Angeles sichtbar. Wer sich über was aufregt, der beschäftigt sich damit. Der kauft sich eine Eintrittskarte oder schaltet den Fernseher ein. Das Spiel ist spannend bis zum Schluss, 31 Sekunden vor Ende hüpft ausgerechnet dieser Colin Kaepernick über zwei Gegenspieler hinweg in die Endzone der Rams, er sorgt für den 22:21-Sieg seiner Mannschaft und präsentiert danach den Black-Panther-Gruß. Joe kümmert sich nicht um diese politische Geste und auch nicht um die Aktion während der Nationalhymne. Er schlürft an seinem alkoholfreien Getränk und sagt das, was hier wohl zu sagen ist, wenn dem Gegner kurz vor Schluss die entscheidende Aktion gelingt: "Verdammtes Arschloch!"