"Verdammtes Arschloch!" Bei der Wortwahl in Sektion 18L in diesem Stadion, das alle nur Coliseum nennen, gibt es nichts, das aufgrund politischer Korrektheit oder anwesender Kinder verpönt oder gar verboten wäre. Es ist Heiliger Abend, die Los Angeles Rams spielen gegen die San Francisco 49ers. Die Menschen in diesem Block tragen Rams-Trikots und Hörner-Hüte und hässliche Weihnachtspullis, sie schimpfen über die Preise fürs Bier (13 Dollar für 0,4 Liter) und auf die Footballspieler auf dem Rasen. Gegnerische Akteure werden mit despektierlichen Begriffen für weibliche Geschlechtsmerkmale bedacht. Ein Spieler, der nach einem Zusammenstoß nicht schnell genug aufsteht, wird "Schwuchtel" genannt. Die Schiedsrichter heißen "blinde Schweine".
Das verdammte Arschloch, das ist für die Zuschauer in diesem Block 49ers-Spielmacher Colin Kaepernick. Der kniet mal wieder, während vor der Partie die amerikanische Nationalhymne gespielt wird, er protestiert damit seit Saisonbeginn gegen Polizeigewalt gegenüber Afroamerikanern. "Hoffentlich haut diesem verdammten Arschloch heute jemand die Kniescheibe raus", sagt einer im Block 18L. Die anderen nicken zustimmend. Auf dem sozialen Netzwerk Twitter werden Kaepernick diverse Verletzungen gewünscht, er wird dort nicht nur "Arschloch" genannt, sondern manchmal auch "Nigger". Noch einmal: Es ist Heiliger Abend.
Football ist einer der wenigen gemeinsamen Nenner, die es in den Vereinigten Staaten noch gibt. Das Endspiel der vergangenen Saison, den "Super Bowl 50", sahen in diesem Land 167 Millionen Leute, das entsprach einem TV-Marktanteil von 72 Prozent. Die Amerikaner behaupten derzeit gerne, dass sie mehr vereinen als trennen würde. Das ist Unsinn. In den meisten Lebensbereichen ist dieses Land in zwei Hälften gebrochen, deren Einwohner nichts mehr verbindet außer die tiefe Verachtung füreinander. Auf Football jedoch können sich die Amerikaner einigen, an jedem verdammten Sonntag von August bis Februar. Sie betrinken sich vor den Stadien, in Bars oder auch daheim, und dann brüllen sie einen Tag lang alles hinaus, was sich in der Woche davor angestaut hat und was das Schimpfwort-Vokabular so hergibt.
50 Regeländerungen, die den Sport weniger martialisch daherkommen lassen
Doch wenn die Amerikaner diesen Sport so lieben, warum ist das Stadion der LA Rams nur zu zwei Dritteln gefüllt? Warum sind die Einschaltquoten der Profiliga NFL in dieser Saison um durchschnittlich 13 Prozent gesunken? Warum ist die Zahl der Jugendlichen, die Football spielen, seit sieben Jahren um mehr als 14 Prozent zurückgegangen? Was ist da los?
Wer nach Gründen sucht, der muss sich mit Roger Goodell beschäftigen. Der ist seit zehn Jahren Chef der NFL - und in der für einen Sportfunktionär gar wunderbaren Lage, dass er nicht so tun muss, als sei Geldverdienen ein notwendiges Übel des Spektakels. Goodell hat als Angestellter aller Vereinsbesitzer, denen die Liga gehört, im Jahr 2010 versprochen, die Einnahmen von damals 8,5 Milliarden bis zum Jahr 2027 auf 25 Milliarden Dollar zu steigern. In dieser Saison dürfte die NFL mehr als 13,5 Milliarden Dollar einnehmen, zum Vergleich: Die deutsche Fußball-Bundesliga schaffte in der Spielzeit 2014/15 einen Gesamtumsatz von umgerechnet 2,84 Milliarden Dollar. Kaum jemand zweifelt daran, dass Goodell sein Ziel erreichen kann. Die Frage ist jedoch, wie er das Ziel erreichen will - und ob sich die Amerikaner auch deshalb von ihrem Nationalsport distanzieren.
Goodell hat vor der aktuellen Saison die Rams aus St. Louis zurück nach Los Angeles geholt und dafür gesorgt, dass nun im Süden der Stadt für 2,6 Milliarden Dollar die teuerste Sportarena des Planeten gebaut wird. Er lässt in dieser Saison drei Spiele in London ausgetragen und eines in Mexiko City, in der kommenden Spielzeit werden es vier Partien in England und eine in Mexiko sein. Er will nach Las Vegas, Südamerika und Europa expandieren und die reguläre Saison gerne auf 18 Partien (bisher 16) verlängern. Und jetzt wird auf den Tribünen eben darüber diskutiert, welche Maßnahmen die Suche nach dem Besten gerechter, spannender, sehenswerter machen - und welche nur die Einnahmen erhöhen sollen.
Was Goodell noch eingeführt hat, nach zähen Verhandlungen mit der Spielerunion NFLPA: insgesamt 50 Regeländerungen, die den Sport weniger martialisch daherkommen lassen, und die, um es mal konkret zu machen, die Lebenserwartung der Spieler steigern sollen. Zahlreiche Studien haben einen Zusammenhang zwischen Football und gravierenden Kopfverletzungen hergestellt, der sich nicht mehr leugnen ließ. Die NFL hatte sich vor drei Jahren außergerichtlich mit ehemaligen Spielern geeinigt, sie wird bis zu einer Milliarde Dollar bezahlen, muss dafür aber keine Verantwortung für vergangene Verletzungen übernehmen - und auch nicht formal zugeben, dass diese Erkrankungen durch Football hervorgerufen werden. Die NFL hat sich freigekauft. Für die Zukunft wird sie sich aber verantworten müssen. Also rühmt sie sich nun dafür, den Sport sicherer gemacht zu haben. Korrekter: weniger gefährlich als früher.
Football war jahrelang eine ziemlich darwinistische Angelegenheit. Der Stärkere überlebt, den Titel gewinnt oftmals nicht die Mannschaft mit den besten Akteuren, sondern die mit den wenigsten Verletzungen. Kaepernick übersteht die Partie in Los Angeles ohne Verletzung, zur gleichen Zeit bricht sich der Quarterback der Oakland Raiders, Derek Carr, in Indianapolis den rechten Fuß und fällt für den Rest der Saison aus. Aus einem Titelkandidaten wird mit einem Schlag ein Außenseiter. Solche Verletzungen will Goodell möglichst verhindern. Er möchte, dass beim Endspiel im Februar die Besten auf dem Feld stehen, nicht Ersatzspieler, die sich auf dem Zahnfleisch ins Stadion schleppen. Er hat diesen Sport weniger gefährlich gemacht, dadurch aber auch weniger aufregend. Auf dem Spielfeld im Coliseum gibt es kein Gemetzel, es wird hin und wieder einer umgerissen. Das gefällt nicht jedem.