Kosovo in der EM-Qualifikation:"Ja, was passiert denn hier?"

Euro 2020 Qualifier - Group A - England v Kosovo

Kosovos Torhüter Aro Muric (li.) wird von seinen Teamkollegen gefeiert, nachdem er einen Strafstoß von Englands Angreifer Harry Kane gehalten hat.

(Foto: David Klein/Reuters)
  • Trotz der 3:5-Niederlage in England können Kosovos Fußballer weiter davon träumen, sich für die Europameisterschaft 2020 zu qualifizieren.
  • Durch die Verpflichtung des weitgereisten Nationaltrainers Challandes, 68, hat sich seit 2018 eine aggressive, couragiert offensive Spielidee etabliert.

Von Sven Haist, London

Um zu verstehen, welche Bedeutung das schnelle Führungstor in England für Kosovo hatte, musste man nur dem Kommentator des kosovarischen Fernsehsenders RTK1 zuhören. Als Valon Berisha bereits in der 34. Spielsekunde zum 1:0 traf, schrie der TV-Mann ins Mikrofon - und zwar eine Minute lang. In der Live-Reportage ging es ebenso euphorisch drunter und drüber wie beim Public Viewing in der Heimat, auch die Spieler und Gästefans im Stadion kriegten sich gar nicht mehr ein. Selbst die englischen Anhänger, denen beim Feiern kaum einer etwas vormacht, staunten über den ausgelassenen Jubel: "Wir haben gezeigt, dass wir ein kleiner Staat sind, aber mit viel Herz", sagte Torschütze Berisha später.

Stimmungsbremsend war für das seit 2008 unabhängige kleine Balkanland lediglich, dass das EM-Qualifikationsspiel nach dem Blitztreffer noch 89:26 Minuten weiterging und 5:3 (5:1) für England endete. Aber auch das war Kosovo egal - Hauptsache, man hatte die Möglichkeit, einmal auf der Insel zu spielen! Viele Kosovaren verehren den früheren britischen Premierminister Tony Blair, der im Kosovokrieg Ende der 90er-Jahre auf einen Nato-Einsatz zum Schutz der Kosovo-Albaner gegen die serbisch-jugoslawische Armee gedrängt hatte; viele Kinder erhielten deshalb sogar den Vornamen "Tonibler". Vor dem Stadion in Southampton hielten Kosovo-Fans Dankesbekundungen hoch. Einer wollte mit seinem Plakat ("Für immer mit euch verbunden, unser geliebtes England") unbedingt ins englische Fernsehen - er schaffte es in die 22-Uhr-Nachrichten der BBC.

Egal, was das erst im Mai 2016 in die großen Verbände Fifa und Uefa aufgenommene Kosovo künftig im Fußball erreichen wird - das historische erste Tor gegen England zählt bis in alle Ewigkeit. Berishas 1:0, eingeleitet durch einen Fehlpass des englischen Verteidigers Michael Keane, erinnerte an das Kunstwerk eines gewissen Davide Gualtieri, der vor 26 Jahren für den Kleinstaat San Marino bereits nach 8,3 Sekunden ins Tor der Engländer traf.

Euro 2020 Qualifier - Group A - England v Kosovo

Ausgelassen trotz 3:5 - kosavarische Fans feiern ihr Team und die seit dem Kosovokrieg von ihnen verehrten englischen Gastgeber.

(Foto: Andrew Boyers/Reuters)

Wie damals (7:1) siegte England auch diesmal noch standesgemäß, die Qualifikation für die EM 2020 würde bereits mit einem Erfolg in Tschechien im Oktober feststehen. Der Favorit rückte die Verhältnisse auch gegen Kosovo mit fünf Treffern noch in der ersten Halbzeit gerade, durch Raheem Sterling (8. Minute/von Manchester City), Harry Kane (19./Tottenham Hotspur), ein Eigentor von Mergim Vojvoda (38./Standard Lüttich) und die ersten Länderspieltore von Ausnahmetalent Jadon Sancho (44., 45.+1/Borussia Dortmund).

Dennoch gab es nach der Pause wieder zarte Andeutungen der englischen Anfälligkeit für Blamagen - wie beim Aus gegen Island bei der EM vor drei Jahren. Nach den Anschlusstoren durch erneut Berisha (49./Lazio Rom) und Vedat Muriqi (55./Fenerbahce Istanbul), die bekanntesten kosovarischen Spieler, versemmelte der sonst so selbstsichere Torjäger Kane zum ersten Mal einen Pflichtspiel-Elfmeter für England (65.). "Wir haben die zweite Halbzeit gegen England 2:0 gewonnen. Das können nicht viele behaupten", sagte der charismatische Kosovo-Trainer Bernard Challandes: "Was will man mehr?"

Tabelle der Gruppe A

1 England 19:4 12

2 Tschechien 9:8 9

3 Kosovo 10:10 8

4 Bulgarien 5:11 2

5 Montenegro 3:13 2

In den Playoffs gäbe es machbare Gegner

Trotz der ersten Niederlage seit 15 Spielen hält sich Kosovo erstaunlich gut bei seinem EM-Qualifikationsdebüt in der Gruppe A - mit acht Punkten liegt das Team nur einen Punkt hinter den zweitplatzierten Tschechen. Und sollte der Sprung auf den zweiten Rang im Herbst nicht mehr gelingen, bliebe die Chance, über die neuen Nations-League-Playoffs zur EM zu kommen - wohl gegen Gegner wie Georgien, Weißrussland und Nordmazedonien. In der Qualifikation zur WM 2018 waren solche Träume noch undenkbar, da schied das Team mit nur einem Punkt und 3:24 Toren als Gruppenletzter aus. Inzwischen schafft es Kosovo, das nur 1,8 Millionen Einwohner hat und in der Weltrangliste auf Platz 120 geführt wird, bekannten Fußballnationen auf die Nerven zu gehen.

Aufgrund der schmerzhaften Vergangenheit, die viele Familien der Spieler ins Ausland vertrieben hat, treten die meist fernab der Heimat aufgewachsenen Fußballprofis in jedem Länderspiel mit einem Pathos auf, als wäre es das letzte Spiel ihrer Karrieren. Durch die Verpflichtung des weit gereisten Nationaltrainers Challandes, 68, hat sich seit 2018 eine aggressive, couragiert offensive Spielidee etabliert.

Den Stärken der technisch begabten Spieler, die in der Heimat "Brasilianer des Balkans" genannt werden, kommt dies entgegen. Kicken konnte jeder einzelne schon immer, nun harmonieren sie auch als Team - mit dem Ziel, auf das junge Land aufmerksam zu machen. Dafür nehmen sie auch die noch fehlenden Strukturen ihres Verbands in Kauf. Ein Charterflug wie jetzt nach Southampton ist eher eine Seltenheit, früher mussten die Spieler beim Training zuweilen Pullover verwenden, um Löcher in den Tornetzen zu flicken.

Der Altersschnitt des Teams von 24 Jahre macht Hoffnung über den gegenwärtigen Freudentaumel hinaus. Und wer das 1:0 in England verpasst hat, sollte es sich noch anschauen - oder zumindest anhören. Der Originalkommentar lautete aus dem Albanischen übersetzt: "Ja, da! Die Chance für Kosovo. Und Goooooool! Berishaaaaaaaa! Was ist denn das, Mensch? Ja, was passiert denn hier? ... Der Fehler der Engländer und sie machen es! ... Die Kosovaren drehen durch! ... Wir sind nicht mehr normal, verehrte Zuschauer. Ich weiß nicht, wo das hinführen wird."

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