EM-Qualifikation:Der nächste Hype kommt aus Kosovo

EM-Qualifikation: Vedat Muriqi nach seinem Tor gegen die Tschechen in der EM-Quali.

Vedat Muriqi nach seinem Tor gegen die Tschechen in der EM-Quali.

(Foto: AP)
  • Kosovos Nationalteam überrascht in der EM-Qualifikation - tatsächlich könnten es die Männer vom Balkan zur EM 2020 schaffen.
  • Am Dienstagabend reisen die Kosovaren zum Spitzenspiel in Gruppe A nach England.
  • In der jungen Mannschaft spielen einige Profis mit Bundesliga-Erfahrung.

Von Jonas Beckenkamp

Ein kleines Land, in dem der Fußball große Gefühle auslöst, diese Geschichte gab es schon häufig. Wer gut aufgepasst und ein Underdog-Herz hat, dem eröffnen sich Erinnerungen an Islands "Huh"-Rufe, an Dänemarks 92er-EM-Helden oder an die wackeren Waliser, die es bei der vergangenen Euro bis ins Halbfinale schafften. Aber ein sogenanntes Fußballmärchen einer Nationalmannschaft, die es so richtig überhaupt erst seit drei Jahren gibt? Diese Geschichte muss neu erzählt werden. Im Kosovo, wo die Menschen in den vergangenen Jahrzehnten politisch arg gebeutelt wurden, entspinnt sich aktuell Europas erstaunlichste Verwirklichung des ewigen Mantras "es gibt keine Kleinen mehr".

Klein ist dieses Land von der Größe Niederbayerns durchaus, es beheimatet ja nicht einmal zwei Millionen Einwohner - aber die EM-Qualifikation macht es möglich, dass sich in der Region auf dem Balkan derzeit niemand mehr wie ein Winzling fühlt. Schon gar nicht all jene, die am Samstagnachmittag im Fadil-Vokrri-Stadion der kosovarischen Hauptstadt Pristina weilten und dort den historischen 2:1-Erfolg ihrer Nationalelf gegen Tschechien miterlebten.

Heimgehen wollte hinterher keiner, die Arena feierte nach Schlusspfiff einfach weiter. Die Partie war schließlich das 15. Spiel in Serie ohne Niederlage für das Kosovo. In der Quali-Gruppe A offenbart sich damit ein Stand, den wohl nur die allergrößten Träumer so für möglich gehalten hätten: Kosovo hinter England auf Platz zwei. Kosovo auf EM-Kurs. Und so reisen die Kosovaren als Herausforderer zum Spitzenspiel auf die Insel an diesem Dienstag - mit all der Euphorie des Wochenendes.

Die Euro 2020 ist plötzlich ganz nah

"Wir feiern heute. Den ganzen Tag, die ganze Nacht", schrieb der kosovarische Fußballverband nach dem nationalen Feiertag gegen die Tschechen auf seinen Kanälen im Netz - während in Pristina das Stadion, eine kleine, graue Schüssel mit knapp 14.000 Plätzen, vor Freudentaumel fast auseinanderflog. Dabei ist es gerade erst ein paar Jahre her, dass hier offizielle Länderspiele stattfinden. Am 3. Juni 2016 bestritt Europas jüngstes Land sein erstes, echtes Länderspiel. Damals gelang auf neutralem Platz in Frankfurt ein 2:0 gegen die Färöer unter Nationaltrainer Albert Bunjaki. Seitdem hat sich einiges getan, bekanntester Kosovare ist dieser Tage Stürmer Milot Rashica, der zwar verletzt ist, aber in seiner Heimat als Riesennummer gilt. Der Bremer traf vergangene Saison neunmal in der Bundesliga, im Pokal-Halbfinale ließ er mit seinem Überschallantritt die komplette Bayern-Abwehr stehen.

Auch mit seiner Hilfe legten die Kosoavaren in der EM-Quali zuletzt eine erstaunliche Serie hin. 1:1 in Montenegro, 3:2 in Bulgarien, jetzt 2:1 gegen den nächsten vermeintlich zu potenten Gegner, die Tschechen. Vor dem Duell mit den Engländern in Southampton wird klar, dass die Euro im kommenden Jahr gar nicht mehr so weit entfernt ist für die Männer vom Balkan.

Der plötzliche Erfolg der kosovarischen Nationalmannschaft reiht sich ein in jene Ahnengalerie der EM-Überraschungen, in der sich auch sportliche Außenseiter wie Lettland (2004) oder Albanien (2016) tummeln. Ihre EM-Teilnahmen kamen mindestens ebenso sehr aus dem Nichts wie es jetzt bei Kosovo der Fall wäre. Speziell wird der Aufstieg auch durch die politischen Hintergründe: Erst 2008 erklärte sich das Land selbst unabhängig, bis heute wird es aber selbst nicht von allen EU-Mitgliedern als souveräner Staat anerkannt.

Politische Probleme mit Serbien

Serbien etwa betrachtet den abtrünnigen Nachbarn im Süden weiterhin als Provinz des Landes. Aus diesem Grund kam es 1998 und 1999 zu kriegerischen Auseinandersetzungen, die auch in der Bundesregierung heftige Debatten um eine Beteiligung der Bundeswehr auslösten. Deshalb lassen sich bis heute auch bei Fußballspielen keine so einfachen Grenzen zwischen Sport, Politik und Geschichte ziehen, wie es die internationalen Sportverbände gerne hätten.

Als Rashica und Co. im Juni in der EM-Quali in Montenegro spielten, boykottierten Montenegros serbischer Trainer Ljubiša Tumbaković und zwei weitere in Serbien geborene Spieler den Auftritt. Tumbaković wurde danach gefeuert - und nur einen Monat später als neuer serbischer Nationalcoach präsentiert. Erst an diesem Samstag bedankten sich serbische Ultras während des Länderspiels gegen Portugal (2:4) mit einem Plakat bei slowakischen Fans, die Kosovo im Juli während eines Europa-League-Qualifikationsspiels von Slovan Bratislava gegen den kosovarischen Verein KF Feronikeli als "heiliges serbisches Land" bezeichnet hatten. Es sind Scharmützel, die eine lange, komplizierte Historie haben.

England will den Underdog nicht unterschätzen

Letztlich ist es aber dieses Spannungsfeld, das die Identifikation der kosovarischen Spieler mit ihrer jungen Republik und ihrem Nationalteam auflädt. "Meine Mitspieler und ich sind bereit, auf dem Platz zu sterben", erklärte voller Inbrunst Vedat Muriqi, einer der beiden Torschützen gegen Tschechien. Seine Erklärung für das große Herz, das die Kosovaren bisher in der Quali ausmacht: "Wir versuchen, 1000 Prozent für dieses Trikot und dieses Land zu geben." Der Hannoveraner Florent Muslija spielte bis vor einem Jahr noch für die deutsche U20-Nationalmannschaft, ehe er sich dann für die Auswahl seines Elternlandes entschied. "Meine Wurzeln liegen im Kosovo. Es war eine Herzensentscheidung", sagte er.

So freut sich ganz Kosovo nun über eine Mannschaft, die besser besetzt ist als die Bulgaren und bestimmt nicht viel schlechter als die Tschechen. Muriqi ist bei Fenerbahçe Istanbul der neue Angriffskollege von Max Kruse. Neben Muslija und Rashica haben auch Besar Halimi, Leart Paqarada (beide SV Sandhausen) und Florent Hadergjonaj (Huddersfield Town) schon Bundesliga-Erfahrungen gesammelt - und auch auf der Trainerposition gibt es Verbindungen ins deutschsprachige Ausland.

Der 68-jährige Bernard Challandes scheint nach Jahrzehnten beim FC Zürich, FC Thun oder den Young Boys Bern noch einmal Lust auf ein paar Aufgaben im unbekannten Terrain zu haben. Von 2014 bis 2015 trainierte er die Auswahl Armeniens, seit dem vergangenen Jahr Kosovo. Jetzt fordert sein Überraschungsteam den bislang größten Gegner, die Engländer - und die haben Respekt. "Unser Match gegen Kosovo ist das Schlüsselspiel in dieser Gruppe", sagt Englands Nationaltrainer Gareth Southgate. "Ihr Spiel gegen Tschechien hat mich beeindruckt, aber nicht überrascht." Den Underdog unterschätzen, das wollen die Engländer unbedingt vermeiden.

(mit Material von dpa)

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