Konstellation in der deutschen Gruppe:Angriffspakt von Lemberg?

Es könnte im Spiel zwischen Deutschland und Dänemark zu einer Konstellation kommen, bei der beide Mannschaften schon vor dem Schlusspfiff mit dem Ergebnis zufrieden sind. Wäre es angesichts eines möglichen EM-Titels wirklich verwerflich, sich auf ein Ergebnis zu einigen?

Jürgen Schmieder

Am 25. Juni 1982 fand ein Fußballspiel zwischen Deutschland und Österreich statt, das als Nichtangriffspakt von Gijon bekannt wurde. Nach dem 1:0 für die deutsche Elf durch Horst Hrubesch in der elften Spielminute wussten beide Mannschaften, dass ihnen dieses Ergebnis zum Einzug in die nächste WM-Runde genügen würde. In den folgenden 79 Minuten entwickelte sich das zweitlangweiligste Experiment in der Geschichte der Menschheit: Wie kann man diese lange Zeit überbrücken, ohne auch nur ein Mal aufs Tor zu schießen?

EURO 2012 - Niederlande - Deutschland

Sollte die Mannschaft von Jogi Löw im letzten Spiel gegen Dänemark miit 2:3 oder einem ähnlichen Ergebnis (3:4, 4:5) verlieren, wären beide Mannschaften - unabhängig vom zweiten Spiel in der Gruppe - sicher für das Viertelfinale qualifiziert.

(Foto: dpa)

Am letzten Gruppenspieltag der Fußball-Europameisterschaft gibt es bei zwei Begegnungen tatsächlich die Möglichkeit, dass sich so etwas wie die Schande von Gijon wiederholt. Allerdings bräuchte es in beiden Fällen jeweils viele Tore. Es wäre der Angriffspakt von Lemberg oder die Schande von Danzig.

In der Gruppe B wären sowohl Deutschland als auch Dänemark sicher eine Runde weiter, wenn Dänemark 3:2, 4:3, 5:4 und so weiter gewinnt. Analog verhält es sich in Gruppe C: Spanien und Kroatien wären bei einem 2:2, 3:3, 4:4 oder noch höherem Unentschieden definitiv fürs Viertelfinale qualifiziert. Es müssten also in beiden Partien zahlreiche Tore fallen, was allerdings nach den Ergebnissen bislang nicht ungewöhnlich erscheint.

Spaniens Verteidiger Raul Albiol hat entsprechende Gerüchte auf der Pressekonferenz zurückgewiesen: "Es gibt keinen Pakt. Das sind Dummheiten, das ist lachhaft. Es ist unverschämt, überhaupt darüber reden zu müssen. Alle Mannschaften gehen aufs Feld, um zu gewinnen. Wir wollen die drei Punkte, weil wir auch die Gruppe gewinnen wollen."

Auf der anderen Seite hört es sich doch verlockend an: Qualifikation für die nächste, dazu eine Partie ohne Anstrengung, was angesichts von fünf Partien innerhalb von weniger als drei Wochen - so man das Finale erreicht - bei Temperaturen von bis zu 40 Grad eine feine Sache wäre.

Deshalb die Frage: Wäre es angesichts eines möglichen EM-Titels wirklich verwerflich, sich auf ein Ergebnis zu einigen? Vor allem nach dem doch überraschenden Ausgang der Spiele am Sonntag, als plötzlich Polen und Russland ausschieden und Tschechien und Griechenland ins Viertelfinale einzogen? Sollte man nicht lieber auf Sicherheit gehen?

In der Spieltheorie nennt sich dieses Verhalten eine Tit-for-tat-Strategie, wenn beide Mannschaften einander freundlich gesinnt und nicht darauf aus sind, das andere Team unbedingt aus dem Wettbewerb zu kegeln. Es wäre bei dieser Art der Problemstellung die optimale ökonomische Entscheidung. Es wäre zunächst einmal eine Win-Win-Situation für jene Teams, die sicher das Viertelfinale erreichen.

Die Protagonisten des Nichtangriffspaktes von Gijon jedenfalls waren sich darüber relativ einig. Hans Krankl etwa sagte: "Ich weiß nicht, was man will. Wir sind qualifiziert." Toni Schumacher merkte an: "Ich habe alles gehalten, was aufs Tor gekommen ist - das waren nur zwei Bälle: Der eine war ein Rückpass und der andere ein Einwurf. Aber was soll ich machen? Nach vorne laufen?" Paul Breitner bestand noch im Jahr 2006 darauf, dass das Verwalten von damals nicht verwerflich gewesen sei - weil jede Mannschaft im Laufe eines Spiels beginnen würde, ein Ergebnis zu verwalten.

10.000 Wüstensöhne

Auch die Verantwortlichen gaben sich damals uneinsichtig, DFB-Präsident Hermann Neuberger sagte: "Ich möchte sagen, dass die deutsche Mannschaft an und für sich das Recht hatte, langsam zu spielen und auf Sicherheit zu spielen." Trainer Jupp Derwall gab zu Protokoll: "Wenn man Leistungen erzielen soll und muss aufgrund der Erwartungen, aufgrund des Drucks, der ausgeübt wird über die Presse und die Öffentlichkeit, dann wird man demnächst überhaupt keine guten Spiele mehr sehen."

Der österreichische Delegationsleiter Hans Tschak sagte gar: "Natürlich ist heute taktisch gespielt worden. Aber wenn jetzt deswegen hier 10.000 Wüstensöhne im Stadion einen Skandal entfachen wollen, zeigt das doch nur, dass die zu wenig Schulen haben. Da kommt so ein Scheich aus einer Oase, darf nach 300 Jahren mal WM-Luft schnuppern und glaubt, jetzt die Klappe aufreißen zu können."

Also: Warum nicht einfach bis zum gewünschten Ergebnis munter drauflos spielen - das wäre gar für die Zuschauer interessant - und dann verwalten? Es wäre so einfach. So erfolgreich. So ökonomisch.

Ein Problem gibt es natürlich: Weder Deutschland noch Österreich gewannen 1982 den Titel. Die deutsche Elf verlor im Finale gegen Italien, Österreich schied in der zweiten Finalrunde in der Gruppe mit Frankreich und Nordirland aus. Beide Mannschaften sind den Menschen seit 30 Jahren in Erinnerung als jene, die für die Schande von Gijon verantwortlich sind. Und beide Mannschaften werden auch in 30 Jahren noch in Erinnerung sein als jene, die für die Schande von Gijon verantwortlich sind. Selbst wenn eine Nation den Titel geholt hätte, es wäre ein besudelter gewesen.

Aus der kurzfristigen Win-Win-Situation wurde eine langfristige Lose-Lose-Situation.

Deshalb kann für Deutschland, Dänemark, Spanien und Kroatien nur gelten: Es ist jedes Ergebnis erlaubt außer jenes, das beide Mannschaften sicher in die nächste Runde bringt - allein deshalb, weil ein schmutziger Beigeschmack bleiben würde. Sollte also Dänemark in der 85. Spielminute rein zufällig wirklich mit 3:2 gegen Deutschland führen, dann sollten beide Teams versuchen, unbedingt noch einen Treffer zu erzielen.

Sollte sich übrigens jemand gefragt haben, warum die 79 Minuten zwischen Deutschland und Österreich nur das zweitlangweiligste Experiment in der Geschichte der Menschheit sind, dem sei das so genannte Pitch Drop Experiment der University of Queensland ans Herz gelegt, bei dem Pech durch einen Trichter tropft. Seit 1927 hat es acht Tropfen gegeben, der nächste soll im kommenden Jahr folgen.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: