Süddeutsche Zeitung

Kommentar:Fußball als Symbol - aber wofür?

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Angst vor Terror, Europa vor der Zerreißprobe. Selten waren Bilder einer EM für einen geeinten Kontinent so wichtig. Nun schwächen Randale die Kraft des Sports.

Kommentar von Sebastian Fischer

Der Ball rollte, und alles war gut. Das jedenfalls war der Eindruck, den die Bilder vom Samstagabend vermittelten, vom ersten Topspiel dieser Europameisterschaft zwischen England und Russland. Selten waren die Bilder von einer Fußball-Europameisterschaft ja so wichtig wie in diesem Jahr. Während die Angst vor dem Terror schwelt und Europa vor der politischen Zerreißprobe steht, soll der Fußball als Symbol taugen, dass Europäer friedlich und fröhlich zusammenfinden können. Im Stadion von Marseille funktionierte das - vom Anpfiff bis zum Abpfiff.

Es funktionierte auch ein paar Stunden vorher, in Bordeaux. "Land der Barden und Sänger, berühmter Männer", so lautet eine Zeile aus der Nationalhymne von Wales, und Tausende Barden und Sänger auf den Rängen des Stadions sangen am Samstag voller Inbrunst in Richtung des Rasens, wo erstmals in der Geschichte des Landes elf berühmte walisische Männer für ein Europameisterschaftsspiel auf dem Rasen standen. Das wirtschaftliche Kalkül der Uefa, das Teilnehmerfeld auf 24 Mannschaften aufzublähen, hat die Begleiterscheinung, dass neue, völkerverständigende Geschichten von kleinen Ländern auf der großen Bühne erzählt werden können: Europa weiß jetzt, nach dem 2:1-Sieg gegen die Slowakei, dass Waliser auf rührende Art und Weise begeisterungsfähig sind - und fast so schön singen wie die Iren.

Wer den Schlägern Hilflosigkeit zugutehält, mit dem ist nicht mehr zu streiten

Doch es gehört genauso zum ersten Wochenende dieses Turniers, dass diese strahlend bunten Bilder in Marseille verschwommen sind, als der Ball nicht rollte; dass die Bilder dort, vor allem im Hafenviertel der Stadt, abstoßend sind. Fußballfans aus England, Russland und wohl auch Frankreich, die schon am dritten Tag in Serie aufeinander einschlagen, in großen Gruppen aufeinanderzumarschieren wie in einer Schlacht, mit Stühlen prügeln, auf am Boden liegende Menschen eintreten, unbeteiligte Passanten attackieren, mit Glasflaschen werfen, sich mit der Polizei bekriegen. Es sind Bilder, die den Fußball besudeln. Ein englischer Fan soll in Lebensgefahr schweben, mindestens 31 wurden verletzt.

Es ergibt keinen Sinn, sich in die dumpfen Hirne der teils bis zur Besinnungslosigkeit alkoholisierten Männer hineinzudenken. Der Chef der englischen Fanvereinigung hat tatsächlich den unfassbaren Satz gesagt, dass es englische Fans gebe, "die deutlich zu viel getrunken haben und nicht wissen, wie sie sich in solchen Situationen verhalten sollen". Wer den Schlägern Hilflosigkeit zugutehält, mit dem fällt es schwer zu streiten.

Die Kritik an den Sicherheitskräften macht Sinn

Was eher Sinn ergibt, ist die Kritik an den Sicherheitskräften in Marseille. 1200 Polizisten sind in der Stadt, 250 am alten Hafen. Wie kann es sein, dass die rivalisierenden Fangruppen dennoch aufeinandertreffen? Wo doch in den vergangenen Monaten von nichts anderem die Rede war als von Plänen und Übungen zur Gewährleistung der öffentlichen Sicherheit für jedwedes denkbare Szenario. Und dann können besoffene Krawallmacher mitten in der Stadt übereinander- und über Unschuldige herfallen?

Das letzte derart mit gesellschaftspolitischer Symbolik aufgeladene Fußballturnier war die WM 2006, jedenfalls hierzulande. Es brauchte zehn Jahre, um das Sommermärchen mit einer Affäre zu beschmutzen. Bekommen die Sicherheitskräfte die Situation in Marseille nicht in den Griff - und dafür gab es am Samstagabend erste Anzeichen, als gleich nach dem Abpfiff noch im Stadion Fans aufeinander los gingen - hat es in Frankreich nicht mal ein paar Tage gedauert.

Die Uefa versuchte die Bilder russischer Fans, die ungehindert in den englischen Block stürmen, in der Live-Übertragung zu verstecken - es waren beschämende Szenen am Ende des zweiten Turniertages. Und so ernüchternd es klingt: Da hilft es auch nichts, dass die Waliser schön singen.

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Quelle:
SZ vom 12.06.2016
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