Süddeutsche Zeitung

Kommentar:Verrückt genug

Serena Williams hat sich nicht nur nicht in ein Schema pressen lassen, sie hat die Grenzen regelrecht gesprengt, sie hat gegen Rassismus und Sexismus gekämpft - und anderen Sportlerin wie Cori Gauff die Türen geöffnet hat.

Von Jürgen Schmieder

In den Katakomben der größten Tennisarena der Welt hängt ein Poster, alle Spielerinnen müssen daran vorbei, wenn sie von der Umkleidekabine zum Spielfeld wollen. Es zeigt Serena Williams vor 20 Jahren, sie hat gerade in New York ihr erstes Grand-Slam-Turnier gewonnen. Bianca Andreescu, die am Samstag den 24. Grand-Slam-Titel von Williams verhinderte, war da noch nicht geboren. Die "24" ist eine magische Zahl für Williams, weil sie damit Rekordhalterin Margaret Court einholen würde und dann auch statistisch die beste Tennisspielerin der Geschichte wäre. Gefühlt ist sie das schon länger, auch ohne Rekord.

Williams beschreibt sich selbst gerne als "Mädchen aus Compton mit einem Tennisschläger und einem Traum", sie war verrückt genug daran zu glauben, dass sie die Tenniswelt verändern könne. Die Leute in diesem oft elitären und mitunter auch snobistischen Sport rümpften die Nase, als diese junge Frau mit Perlen im Haar auftauchte, auch mal fluchte und später im vornehmen All England Club von Wimbledon Bewegungen aufführte, die Beobachter der Gang Cribs zuordneten. So eine wie Williams hatte es davor noch nicht gegeben im Tennis.

Sie ist anders gewesen, und man könnte meinen, die berühmte "Think Different"-Werbung von Apple, die zufällig zum Karrierestart von Williams zu sehen war, handele von ihr: "Die Rebellen, die Idealisten, die Visionäre, die Querdenker, die sich in kein Schema pressen lassen." Williams hat sich nicht nur nicht in ein Schema pressen lassen. Sie hat die Grenzen gesprengt, sie hat gegen Rassismus und Sexismus gekämpft, auch ihretwegen ist eine tennisspielende Afroamerikanerin wie die Teenagerin Cori Gauff so selbstverständlich, wie es sein sollte. In der Apple-Kampagne heißt es dazu: "Denn die, die verrückt genug sind zu glauben, sie könnten die Welt verändern, sind die, die es tun." Die "24" wäre auch deshalb so bedeutsam, weil Court in den vergangenen Jahren durch homophobe und rassistische Aussagen aufgefallen ist.

Titel sind wichtig im Sport, keine Frage, sie sind die objektive Maßeinheit, wie weit es jemand gebracht hat - im Fall von Williams vom Mädchen aus Compton zu einem über die Geschlechter hinweg besten Sportler der Geschichte. Es wäre jedoch falsch, die Bedeutung von Williams auf diese Zahl zu reduzieren oder ihre Rückkehr nach Babypause auf nun vier verlorene Endspiele nacheinander ohne Satzerfolg. Es gibt in der Tennis-Historie nur 60 Spielerinnen, die überhaupt vier Finals erreicht haben. Wenn US-Open-Teilnehmerinnen aus der Umkleidekabine zum Spielfeld laufen, dann sehen sie nicht nur dieses Poster, sondern auch ein Zitat von Billie Jean King: "Pressure is a privilege". Es ist ein Hinweis darauf, dass Druck nur jene verspüren, die gut genug sind, überhaupt unter Druck zu stehen.

Serena Williams ist verrückt genug gewesen zu glauben, dass sie die Tenniswelt verändern könne. Das hat sie geschafft - und noch viel mehr. Für die Bewertung ihrer Laufbahn, vor allem aber ihren Einfluss auf diese Sportart und auch darüber hinaus ist es völlig unerheblich, ob sie irgendwann diesen 24. Grand-Slam-Titel erreicht oder nicht.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.4592567
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 09.09.2019
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.