Kommentar:Verräter im System

Die rituelle Ratlosigkeit des Sports angesichts seines Strukturproblems zeigt, dass Doping kaum einen Funktionär interessiert. Was diese Kaste wirklich umtreibt, offenbart der Präsident der Welt-Anti-Doping-Agentur.

Von Thomas Kistner

Nicht jeder im Epizentrum des jüngsten Dopingbebens hat den Humor verloren. So kündigt nun Thomas Bach die hundertste Null-Toleranz-Politik gegen den Betrug an. Das sagte der IOC-Chef beim Treff in Malaysia, wo seine Olympier just die namhafte Schneeregion Peking (wegen der Nachhaltigkeit und des Umweltschutzes) zum Wintersportort 2022 gekürt hatten; das sagt der Mann, an dessen starkem Widerstand jahrelang ein Anti-Doping-Gesetz in Deutschland scheiterte. Kaum war Bach auf den IOC-Thron gewechselt, machte sich die Berliner Politik mit Verve an die Arbeit. Demnächst soll der Gesetzesentwurf verabschiedet werden. Allen Einwänden von Bachs im Deutschen Olympischen Sportbund zurückgebliebenen Mitstreitern zum Trotz.

Solche Geschichten helfen verstehen, wie das Wirtschaftssystem Spitzensport auch diese Krise abwiegeln wird: So wie immer. Kleine Sünder, die bald überführt werden dürften, müssen sich allerdings warm anziehen: Mit Bauernopfern machen Funktionäre kurzen Prozess. Sie sind in Zeiten, wenn die Glaubwürdigkeit erodiert, hochwillkommen, um eine Entschlossenheit zu exerzieren, die es tatsächlich nie gab, gibt oder geben wird. Schließlich ist Doping kein Einzelproblem. Es ist der große Systemzwang.

Wer war die Quelle? Diese Frage treibt auffallend viele um

Schneller, höher, stärker lautet das Motto Olympias, dessen Kernsportarten Leichtathletik und Schwimmen gerade wieder massiv in den Fokus gerückt sind. Aber keine Sorge, es wird kein Heldensterben geben. Null-Toleranz heißt im Sport: Tut, was ihr müsst, wir werden es selbst bei schwerster Verdachtslage absichern - wofür gibt es die Unschuldsvermutung? Wer sich aber trotz aller Tricks ertappen lässt, ist fällig. So sind die Regeln. Nicht de jure, klar. De facto.

Bei der Analyse helfen zwei wissenschaftliche Erhebungen unter deutschen Kaderathleten aus jüngerer Zeit. Zutage trat, dass bis zu 50 Prozent mit Doping zumindest schon in Berührung kamen. Bei einer Sporthilfe-Studie 2013 gaben gar sechs Prozent an, regelmäßig zu dopen; 40 Prozent ließen die D-Frage unbeantwortet. Was der Sport anfing mit der unglaublichen Auskunft? Wie er damit umging? Ist nicht bekannt. Vielleicht lassen sich aus solchen Materialien ja prima Papierflieger basteln?

Die rituelle Ratlosigkeit des Sports angesichts seines Strukturproblems zeigt, dass dieses Thema kaum einen Funktionär interessiert. Was diese Kaste wirklich umtreibt, hat jetzt Craig Reedie offenbart. Man sei "sehr überrascht" von den Enthüllungen, sagte der Präsident der Welt-Anti-Doping-Agentur und IOC-Vize, "die wohl von einer undichten Stelle im Leichtathletik-Weltverband IAAF kommen". Ein Verräter im System, der die Öffentlichkeit über ein gewaltiges Lügengebilde informierte? Er sei sicher, fuhr Reedie fort, dass sie bei der IAAF "ganz genau nachforschen, um die Quelle zu finden!" Die Quelle: Um die geht es! Geschlossene Systeme müssen sich nur vor Verrätern fürchten.

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