Kommentar:Revanchefoul aus der Realschule

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Der ehemalige Bundestrainer Henning Lambertz legt kurz vor der Schwimm-WM einen alten Konflikt um das angeschlagene deutsche Team offen. Doch mit der Realität hat Lambertz' Analyse wenig zu tun.

Von Claudio Catuogno

Als der Chefbundestrainer der deutschen Schwimmer kurz vor Weihnachten sein Amt aufgab, nur ein halbes Jahr vor der WM in Gwangju und anderthalb vor Olympia, wurde zur Begründung eine anrührende und in Teilen bestimmt sogar wahre Sprachregelung formuliert. Henning Lambertz, hieß es, wolle wieder mehr Zeit mit seinen Töchtern verbringen. "Es sind genug Tränen geflossen, jetzt müssen Zeiten der Freude und des familiären Glückes deren Platz einnehmen", wurde er zitiert. Nach 22 Trainerjahren wechselte Lambertz als Lehrer an eine Essener Realschule.

Tränen waren unter Lambertz auch im deutschen Schwimmen reichlich geflossen. Nicht nur, weil er am Ende so surreal harte Qualifikationsnormen einforderte, dass das Nationalteam immer kleiner wurde und die Motivation vieler Athleten, sich den Sport noch anzutun, ebenfalls. Lambertz war auch für seine schneidige Ansprache bekannt. Insofern erwies sich der Rücktritt als Win-win-Situation: Die Töchter vergossen jetzt weniger Tränen - und im Schwimmen wurden Lambertz auch kaum welche nachgeweint.

Damit hätte man es bewenden lassen können, wenn nun in Südkorea die WM beginnt, zunächst für Wasserspringer, Freiwasserschwimmer und Wasserballer, in einer Woche dann auch für die Beckenschwimmer. Aber nun ist es Lambertz selbst, der den Konflikt offenlegt, der im Winter von der Sprachregelung bloß übertüncht wurde: "Im Moment" - also ohne ihn als Chef - "darf jeder trainieren, wie er möchte", sagte Lambertz dem Sportinformationsdienst, "um das Schwimmen wieder konkurrenzfähig zu machen, braucht man jedoch ein System, eine klare Idee." Man dürfe als Bundestrainer nicht bloß auf "die künstlerische Freiheit jedes Einzelnen" hoffen, "das hatten wir schon, es hat nicht geklappt". Ein Wortbeitrag der Kategorie Revanchefoul, mit Grüßen aus der Realschule.

Mit der Realität hat Lambertz' Analyse wenig zu tun. Tatsächlich versucht der DSV-Sportdirektor Thomas Kurschilgen, der zuvor bei den Leichtathleten Erfolge hatte, gemeinsam mit den Heimtrainern Bernd Berkhahn (Magdeburg) und Hannes Vitense (Neckarsulm) in neuen Führungsrollen, das deutsche Schwimmen wieder nach nachvollziehbaren Kriterien zu organisieren. Einerseits mit straffen Vorgaben, die für alle gelten, aber doch auch im Wissen, dass nicht ein Konzept für jeden taugt; dass vielmehr Spitzenleistungen gerade im Schwimmen sehr individuell herausgekitzelt werden müssen. Lambertz hingegen hatte die Szene am Ende radikal in Freunde und Feinde eingeteilt, Loyalität war da schon mal wichtiger als optimale Rahmenbedingungen oder Erfahrung und Fachkompetenz.

Dass das deutsche Schwimmen in einer schwierigen Verfassung ist, damit hat Lambertz schon recht: Ein, zwei Medaillen könnte es im Becken von Gwangju geben, vielleicht drei. Vielleicht keine. Zu einer fairen Bewertung gehört aber auch, dass man dem deutschen Schwimmen jetzt etwas Zeit geben muss - um sich von der Ära Henning Lambertz zu erholen.

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