Kommentar:Moderator sucht Gespür

Die Reise-Affäre um Nationalspieler Tobias Reichmann zeigt auch, dass Bundestrainer Christian Prokop nur wenig Gespür für Menschen und ihre Stimmungen hat.

Von Joachim Mölter

Die Goldsteak-Geschichte des Fußballprofis Franck Ribéry vom FC Bayern ist noch frisch in Erinnerung, da löst bereits der nächste Sportler mit einem Instagram-Post - also einer Mitteilung in den sogenannten sozialen Medien - Aufregung aus: Der Handball-Nationalspieler Tobias Reichmann hat sich auf diesem Weg in einen Kurzurlaub nach Florida verabschiedet und so am Tag des WM-Eröffnungsspiels in Berlin für Unruhe gesorgt - er sollte sich ja als Ersatzmann bereithalten und kurzfristig einspringen können.

Reichmanns Reise-Affäre dient als ein weiteres Beispiel dafür, wie vertrackt zwischenmenschliche Kommunikation sein kann, wie heikel der Umgang mit sozialen Medien ist - und wie sensibel der Umgang mit Mannschaftssportlern sein kann. In dem einen Fall ist man oft besser beraten, einfach mal stillzuhalten und gar nichts mitzuteilen; im anderen hilft es häufig, eher mehr zu reden.

Nüchtern betrachtet, muss man sich an Reichmanns Abschiedsworten nicht zwingend stören. Angesichts der Umstände kann man sie aber durchaus als Affront gegen Bundestrainer Christian Prokop interpretieren. Der hatte Reichmann kurz vor der WM überraschend aus dem endgültigen 16er-Kader gestrichen; der Spieler ließ nun seinem Frust freien Lauf.

Für gewöhnlich ist man mit einem Verhalten, wie es Reichmann gezeigt hat, in einer Mannschaft unten durch. In diesem Fall scheint jedoch die Tür für eine Rückkehr offen zu stehen. Nach dem 30:19 im Eröffnungsspiel gegen Korea bemühten sich jedenfalls alle um Deeskalation, die Wortführer innerhalb des Teams ebenso wie die Spitzenfunktionäre.

Es gibt ja Verständnis für Reichmanns Frust. Für den 30-Jährigen ist das Turnier noch mehr eine Heim-WM als für alle anderen: Er ist in Ostberlin geboren und in der Gemeinde Rangsdorf aufgewachsen, unmittelbar südlich des Berliner Autobahnrings A 10. Nicht mal der in Potsdam geborene Füchse-Profi Fabian Wiede hat seine Wurzeln so nah an jenem Teil der Hauptstadt, in dem nun die WM-Vorrunde ausgetragen wird. Außerdem kann es auch sein, dass sie Reichmann noch mal brauchen - für den Notfall, dass sich Patrick Groetzki verletzt, der nach Reichmanns Ausbootung einzige Rechtsaußen des deutschen Teams. In einer Partie könnte man den Ausfall eines gelernten Außenspielers kompensieren - in einem ganzen Turnier eher nicht.

Es bestätigt sich nun, dass Prokop bei der Aufstellung seines 28-Mann-Kaders, aus dem er für diese WM auswählen kann, ein Risiko eingegangen ist, als er nur zwei Rechtsaußen berücksichtigt hatte. Theoretisch hätte er jede der sieben Positionen mit vier Mann besetzen können. Dann wäre Reichmann jetzt kein Thema mehr, sondern einfach draußen.

Fachlich ist die Entscheidung des Bundestrainers vertretbar, nur einen Rechtsaußen zur WM mitzunehmen; genauso gut hätte er aber auch zwei mitnehmen können, also Reichmann anstelle des dritten Halbrechten Franz Semper zum Beispiel. Zumal Prokop immer noch die Möglichkeit hat zu wechseln, dreimal während der WM, und Nachnominierte hatten schon oft entscheidende Bedeutung: Christian Schwarzer gab den Impuls zum WM-Sieg 2007, Kai Häfner und Julius Kühn taten es beim EM-Erfolg 2016.

Was nun vor allem bleibt, ist der Eindruck, dass Bundestrainer Prokop kein glückliches Händchen hat bei der Moderation seiner Personalüberlegungen. Bei der EM 2018 in Kroatien hatte er zunächst auf Abwehrchef Finn Lemke verzichtet und damit die ganze Mannschaft verunsichert. Nun trübt die Personalie Reichmann die Atmosphäre. Es ist ein Jammer: Da hat einer offensichtlich so viel Sachverstand - und so wenig Gespür für Menschen und deren Stimmungen.

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