Kommentar:Limbo 2017

Der vergangene Erfolg wird als Messlatte für die Zukunft aufgelegt, vielleicht sogar ein bisschen höher. Ein Profi soll ja immer auch mehr wollen. Auch das hemmt Angelique Kerber. Diese Saison zeigt vor allem, wie außergewöhnlich das Jahr 2016 für sie war.

Von Jürgen Schmieder

Das wirklich Gemeine am Profisport ist, dass nur sehr wenige Akteure im Moment des größtmöglichen Triumphes aufhören dürfen: nach dem WM-Titel etwa, nach einem Olympiasieg oder nach einer fantastischen Tennissaison, wie sie Angelique Kerber im vergangenen Jahr mit zwei Grand-Slam-Titeln und Olympia-Silber hingelegt hat. Die meisten Sportler machen weiter, immer weiter, denn wenn aus Träumen und Hoffnungen einmal Realität geworden ist, dann erwachsen aus dieser Realität neue Träume und Hoffnungen oder sogar Erwartungen. Der vergangene Erfolg wird als Messlatte für die Zukunft aufgelegt, vielleicht sogar ein bisschen höher. Ein Profisportler soll ja immer auch mehr wollen.

Wer jedoch die beste Leistung seines Lebens bereits erbracht hat, der wird diese Latte nie wieder überspringen können. Er wird sie reißen, immer wieder, und manchmal, da wird er sie sogar unterschreiten wie ein Limbo-Tänzer - und dann wird dieses Scheitern mit Begriffen wie "enttäuschend" oder "schrecklich" umschrieben. Ein bisschen weniger ist nicht mehr gut genug.

Angelique Kerber hat im vergangenen Jahr nach den Australian Open zu Saisonbeginn auch noch die US Open gewonnen, sie hat damals im aufregenden Finale gegen Karolina Pliskova die Kapitulation verweigert und die Menschen mit spektakulärer Spielweise begeistert. Bereits zuvor hatte sie durch die Niederlage von Serena Williams im Halbfinale erfahren, dass sie nach dem Turnier auf Platz eins der Weltrangliste geführt werden würde. Sie war die beste Spielerin der Welt. Viel mehr geht nicht beim Tennis. Und trotzdem war sie gierig genug, noch das Finale zu gewinnen.

Diese Saison zeigt vor allem, wie außergewöhnlich 2016 war

Angelique Kerber hat ihre Karriere nicht beendet in diesem Augenblick des größtmöglichen Triumphs. Warum auch? Sie war 28 Jahre alt und spielte gerade das beste Tennis ihres Lebens. Die Frage lautete eher: Geht da nicht vielleicht noch mehr? Sind weitere Grand-Slam-Titel möglich? Mehrere Monate als Nummer eins? Weiter, immer weiter. Kerber war nun die Weltranglistenerste, eine Berühmtheit auch außerhalb des Tennisplatzes, die Titelverteidigerin bei vielen Turnieren. Sie war die Messlatte für andere Spielerinnen, zahlreiche Beobachter und wahrscheinlich auch für sich selbst. Doch zwischen all den Floskeln, die Kerber gerne verwendet, war dann doch hin und wieder der Hinweis versteckt, dass sie diesen Rummel um sich eher duldet als genießt.

Sie hat in dieser Saison noch kein Turnier gewonnen, nur in Monterrey stand sie im Finale, bei den Grand Slams kam sie jeweils nicht übers Achtelfinale hinaus. Nun verlor sie in New York als Titelverteidigerin in der ersten Runde. 3:6, 1:6. In der Weltrangliste wird sie aus den Top Ten purzeln, schätzungsweise auf Platz 15. Das hört sich so an, als würde jemand mit der Messlatte erst Limbo tanzen und sie dann von der Auflage reißen. Genauso war es auch. Es sagt einiges darüber, wie hoch Kerber gestiegen war, wenn man ihre Saison 2017 als schrecklich bezeichnet. Sie ist eher gewöhnlich - so wie das vergangene Jahr außergewöhnlich gewesen ist.

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