Kommentar:Im Schmerznebel

Die Debatte um Olympia-Normen ist verständlich: Zuletzt beklagten sich doch wieder einige Sportler über Vorschriften einer Obrigkeit, in der sie weniger einen Partner sehen, sondern einen Widersacher.

Von Johannes Knuth

Am liebsten wäre Philipp Pflieger in Berlin gar nicht so schnell gelaufen, wie er gelaufen war. Zumindest die erste Hälfte des Marathons, die er in 66 Minuten absolviert hatte. "Die sind wir nicht gelaufen, weil es sinnvoll war. Oder weil es geil ist, später im Schmerznebel unterzugehen", sagt Pflieger später: "Sondern, weil uns der Verband das so diktiert hat." Pflieger rannte also hinein in den Schmerznebel, ohne zu wissen, ob er den Weg ins Ziel finden würde. Er kam an, er hatte die Norm des Weltverbands für die Olympischen Spiele in Rio unterboten, die strengere Vorschrift des Deutschen Leichtathletik-Verbands (DLV) aber verfehlt. Kann sein, dass Pflieger Rio 2016 nur aus der Ferne sieht. Obwohl er sich eigentlich qualifiziert hat.

Dort wo Leistung noch gedeiht, werden Athleten kaum gefördert

Diskussionen um Normen haben Tradition in der deutschen Leichtathletik. Die Debatte war in den vergangenen Jahren etwas abgeflaut. Die Sportler waren dazu übergegangen, die Vorgaben zu erfüllen, statt sie zu beklagen; Athleten, Bundes- und Heimtrainer arbeiteten weniger gegen-, sondern mehr miteinander. Aber zuletzt beklagten sich Athleten wie Pflieger doch wieder über Vorschriften einer Obrigkeit, in der sie manchmal keinen Partner sehen, sondern einen Widersacher. Die Durchsage vom Kapitänsdeck des DLV lautet nun, grob zusammengefasst: Wir lassen bei allen Athleten gleiche Strenge walten; wir wollen, dass sie bei Olympia eine "erweiterte Endkampfchance" besitzen. Dafür müsste man die Marathon-Norm sogar noch strenger auslegen. Wolfgang Heinig, Leitender Bundestrainer Lauf, sagte der Deutschen Presse-Agentur: "Jeder Leistungssportler, der professionell an seine Sache herangeht, kann diese Normzeiten auch laufen." So einfach ist es dann leider doch nicht. Die Formeln, mit denen der DLV seine Normen kalkuliert, orientieren sich an Weltranglisten, aus denen zuverlässig Dopingtäter herausgefischt werden. Vor allem im Laufbereich. Das ist in etwa so, als würde man Autofahrer bitten: Wahrt das Tempolimit, aber haltet irgendwie mit den Rasern mit. Zudem passen die propagierten Ziele nicht immer zu den Mitteln, die der Verband bereitstellt. Dort, wo Leistung gedeiht, wie bei Pflieger, wird kaum gewässert. Dort fahren Eltern die Jugendlichen zum Training, bezahlen Trainingslager, später springen Vereine und Sponsoren ein. Der Athlet studiert, weil Plätze in Sportfördergruppen rar sind und die Perspektiven nach dem Sport ungewiss. Er soll sein Studium durchbringen, parallel bis zu dreimal am Tag trainieren. Weltweit trifft er auf zunehmend stärkere Konkurrenten, weil immer mehr Nationen ins Hochleistungsgewerbe einsteigen. Es klingt zunächst paradox, aber je mehr weltweit gefördert wird, desto schwieriger wird es ja , in ein Finale vorzustoßen. In diesem Klima mehr Professionalität zu fordern, ohne die Förderung aufzufrischen - das ist wirklich paradox.

Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: