Kommentar:Gegen Scham und Angst

Es wird einer der größten Gradmesser auf dem langen Weg sein, den der Sport noch vor sich hat: wie ernsthaft er all jenen Gehör schenkt, die nicht mehr zum Thema Missbrauch schweigen wollen.

Von Johannes Knuth

Die Zahlen klingen erschreckend und erschreckend vertraut. Jede dritte südkoreanische Profiathletin hat in einer Studie des Sportministeriums jetzt angegeben, dass sie während ihrer Karriere mindestens einmal sexuell belästigt wurde. Elf Prozent waren allein während der vergangenen zwölf Monate betroffen. Im Fußball, Basketball, Volleyball, Golf, Softball. Die Täter: zumeist Trainer oder ältere Athleten. Und weniger als fünf Prozent der Befragten hatten den Mut, die Übergriffe zu melden.

Andere Länder, ähnliche Zahlen. Eine Studie der Sporthochschule Köln erfasste unlängst 1800 Kaderathletinnen und Athleten aus 128 Sportarten. Ein Drittel erfuhr demnach schon mal "eine Form von sexualisierter Gewalt". Der amerikanische Turn-Teamarzt Larry Nassar konnte tausendfach junge Frauen und Kinder missbrauchen, ehe er vor einem Jahr zu 175 Jahren Haft verurteilt wurde. Die ehemalige Skirennläuferin Nicola Werdenigg legte zur gleichen Zeit jahrelangen Missbrauch im österreichischen Skisport frei, im Verband, in Internaten und Schulen. Der Sport hat seit Langem ein gewaltiges Problem mit sexualisierter Gewalt, mit Betreuern, die ihre Machtposition gegenüber jungen Athleten schamlos ausnutzen. Das ist eine Realität, der er sich erst allmählich stellt.

Und das ist natürlich enorm wichtig: dass Dunkelziffern endlich sichtbar werden, dass Tabus aufbrechen, auch dank #MeToo. Zugleich belegen all diese Fälle, wie viel im Kampf gegen sexualisierte Gewalt noch zu tun ist. Es waren zunächst ja fast immer einzelne Betroffene, die Missstände ins Licht der Öffentlichkeit zerrten. In den USA redeten zunächst nur wenige Athletinnen, die Funktionäre verharmlosten und vertuschten. Oder in Österreich: Da meldeten sich Dutzende Missbrauchsopfer aus dem Sport bei Werdenigg, eine Kommission bestätigte die Vorfälle in den Internaten. Der Verband? Reagierte erst mal schroff, setzte eine eigene Kommission ein, die keine systemischen Probleme fand. Und werkelte zuletzt offenbar bei einem Prozess im Hintergrund mit, um die Glaubwürdigkeit eines mutmaßlichen Missbrauchsopfers zu erschüttern, das gegen den ehemaligen Ski-Trainer Charly Kahr ausgesagt hatte (auch in der Süddeutschen Zeitung). Kahr beteuerte seine Unschuld, verlor aber den Prozess. Anschließend echauffierte sich Annemarie Moser-Pröll, Österreichs Jahrhundertsportlerin und Zeugin in besagtem Verfahren: "Unsere Helden sollen auch unsere Helden bleiben."

Das ist der Kitt, der geschlossene System zusammenhält, oft noch heute. Helden sollen doch bitte Helden bleiben. Und die Missbrauchsopfer machen das Erlebte mit sich selbst aus - vor Scham und vor Angst, den Kaderplatz oder gleich die Karriere zu verlieren, die oft vom Zuspruch eines Trainers abhängt. Es wird einer der größten Gradmesser auf dem langen Weg sein, den der Sport noch vor sich hat: wie ernsthaft er all denen zuhört, die nicht mehr schweigen wollen.

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