Süddeutsche Zeitung

Kommentar:Fohlen auf der Couch

Borussia Mönchengladbach sieht sich in der Champions League gegen große Gegner nach einem wiederkehrenden Muster um großen Lohn gebracht. Das zeigt, was der talentierten Mannschaft noch fehlt.

Von Klaus Hoeltzenbein

Es gibt im frei zugänglichen Fernsehen hierzulande kaum ein schrägeres Format als den Fantalk auf Sport1. Was dort an einem Champions-League-Abend zu entdecken ist, ähnelt einem Kammerspiel. Experten sitzen um einen Tisch herum und schauen mit dem Fernrohr in die weite Welt hinaus. Sie reden unermüdlich über ein Fußballspiel, das der Zuschauer nicht sieht. Denn die Experten haben ein Abonnement fürs Pay-TV, der Sofagucker daheim hat es nicht, er muss sich auf das verlassen, was ihm erzählt wird. Das Format muss erfolgreich sein, es wird von Werbung für Partnerdienste oder Wettanbieter eingerahmt. Zu bestaunen ist ein Anachronismus, der zurückführt in die Anfänge, als Fernsehen noch Radio mit Bildern war.

Dienstagabend war am Sport1-Stammtisch eine Art doppelköpfige Kassandra zu Gast. Zwei Spielverderber saßen dort. Sie sahen das Unheil heraufziehen, fanden aber zunächst kein Gehör, weil Marcus Thuram für Borussia Mönchengladbach doch schon zwei Mal ins Tor von Real Madrid getroffen hatte. Derweil wies die Doppelkopf-Kassandra penetrant darauf hin, dass da noch sehr viel schiefgehen könne bis zum Abpfiff. Der Tenor: Wartet nur! Wir haben das doch alles schon am eigenen Leib erlebt! Stimmt: Mario Basler, heute 51, und Stefan Effenberg, heute 53, zählen zu den weltbesten Experten für Nackenschläge in der Nachspielzeit. Beide standen 1999 in jenem Spiel auf dem Rasen, das so etwas wie die Mutter aller Niederlagen ist. Champions-League-Finale in Barcelona, FC Bayern gegen Manchester United: Basler hatte früh die Münchner Führung erzielt, Sheringham (90.+1) glich aus, und als sich alle in der Verlängerung wähnten, besiegelte Solskjaer (90.+3) das Trauerspiel.

Im Borussia-Park war jetzt natürlich alles sehr, sehr viele Nummern kleiner. Aber es ist immerzu erstaunlich, wie sich im Fußball die Dramaturgien ähneln. Gladbach hat ja nicht nur, wie es die Doppelkopf-Kassandra prophezeite, durch Benzema (87.) und Casemiro (90.+3) noch den deprimierenden Ausgleich hinnehmen müssen. Beide Treffer fielen ja auch nach Schablone, sie ähnelten zudem verblüffend jenem Tor, mit dem eine Woche zuvor Inter Mailand durch Romelu Lukaku (90.) ebenfalls in letzter Sekunde zum 2:2 ausglich. Immer dasselbe Drei-Phasen-Muster, durch das sich Gladbachs Borussia in der Vorrundengruppe B um den großen Lohn gebracht sehen musste: Ecke (oder Flanke), Kopfball-Verlängerung, Abstauber - Tor. Und deshalb müssen jetzt alle Fohlen auf die Couch.

Den Namen haben sie noch aus den Siebzigern, als die Leute am Niederrhein reimten: Netzer, Vogts und Heynckes Jupp, holen den Europacup! Gefürchtet waren die Fohlen von damals wegen ihres pfeilschnellen Konterspiels. Den Fohlen von heute fehlt (noch) diese Qualität, in der finalen Phase nicht zu stolpern, sondern den entscheidenden Stoß zu setzen. Kein Wunder, dem Klub fehlen ja zwischen damals und heute auch ein paar Jahrzehnte. Denn auf Europas großer Bühne waren sie seither nur punktuell zu Gast. Und während sie zusahen, fraßen sich der FC Bayern und Real Madrid ihre unerschütterliche Selbstgewissheit an. Jene Qualität, die Kassandra unken lässt.

Geht doch nicht, dass wir hier führen, 2:0, gegen das große Madrid - so hatte es sich am Dienstag als giftiger Gedanke in die jungen Fohlen-Hirne eingeschlichen. Sergio Ramos aus dem großen Madrid hingegen dachte: Da geht noch was! Er verließ seine Verteidigungslinie, stieg zum Kopfball hoch und servierte Casemiro zum Ausgleich. Tiefenpsychologie. Gekoppelt mit Betriebsroutine.

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SZ vom 29.10.2020
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