Kommentar:Fauxpas mit der Flasche

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Ohne Gelbes Trikot unterwegs: Julian Alaphilippe aus Frankreich, der eine Zeitstrafe kassierte. (Foto: Marco Bertorello/Reuters)

Der Tour kommen Episoden wie Alaphilippes Strafe manchmal gelegen; erst recht, wenn sie in der Corona-Tristesse unterhalten.

Von Johannes Aumüller

Ja, die Regelhüter des Radsports können auch rigoros sein. Täglich veröffentlichen die Organisatoren der Tour de France ihr Bulletin zur Etappe, neben Ergebnislisten und Verletztenmeldungen gibt es dort eine Rubrik "Sanktionen" - und diese ist häufig gut gefüllt. Regelmäßig bekommen etwa Fahrer, die heimlich den Windschatten eines Begleitfahrzeugs genutzt haben, eine Zeitstrafe. Auch um etwas diffizilere Vergehen kümmern sich die Rennkommissionäre. Wer seine Blase erleichtert, obwohl Zuschauer in der Nähe sind, muss ein paar Hundert Franken Strafe zahlen; und wer sich in einem unerlaubten Moment eine Trinkflasche reichen lässt, der bekommt 20 Sekunden extra aufgebrummt.

Die Tour de France hat am Mittwochabend einen wahrlich kuriosen Moment erlebt, als der Franzose Julian Alaphilippe wegen eines verbotenen Griffes zur Trinkflasche das Gelbe Trikot verlor. 17 Kilometer vor dem Ziel reichte ihm ein Betreuer ein Bidon, dabei war die Verpflegung nur bis 20 Kilometer vor dem Ziel erlaubt - und so ereilte den Publikumsliebling eine folgenschwere Zeitstrafe. Alaphilippe und sein Deceuninck-Team waren natürlich frustriert ob dieses Anfängerfehlers, und der Profiteur Adam Yates wollte sich nicht so recht freuen über die unerwartete Übernahme des Maillot Jaune. Aber der Tour als Ganzes kommen solche Episoden manchmal schon gelegen; erst recht, wenn sie in der Corona-Tristesse zu ein bisschen Amüsement und Abwechslung beitragen.

Die Gesamtführung auf kuriose Weise zu verlieren, brennt sich ein in den Legendenschatz

Denn zum Fundament der Tour gehören nun mal die kleinen und großen Dramen des Rennens. Die Gesamtführung auf kuriose Weise zu verlieren, brennt sich ein in den Legendenschatz. Vor 107 Jahren gab es den berühmtesten dieser Fälle, als der Franzose Eugène Christophe dank seines Vorsprungs auf dem Tourmalet virtuell das Klassement anführte - und ihm auf der Abfahrt die Gabel brach. Zu Fuß musste er die Serpentinen hinab und in einer Schmiede im Tal das Rad flicken. Und, apropos Zeitstrafen: Als Christophe endlich weiterfahren konnte, gab es eine Strafminute, weil ein Dorfjunge den Blasebalg bedient hatte - und fremde Hilfe verboten war.

Nicht selten schloss das Publikum diejenigen, die von Missgeschicken heimgesucht wurden, besonders ins Herz. In jüngerer Vergangenheit gab es solche Fälle seltener. Als vor vier Jahren am Mont Ventoux Zuschauer die Straße verstopften und Gelb-Träger Chris Froome zu Fuß weitermusste, erzeugte das zwar viele denkwürdige Bilder. Für das Klassement aber blieb es folgenlos, weil die Jury Froomes Zeit an die der Konkurrenz anpasste.

An Abenteuer wie das von Christophe kommt Alaphilippes Fauxpas mit der Flasche natürlich nicht heran. Aber er dürfte in ein paar Jahren einen schönen Platz im Mythenschatz der Tour finden. Und bis dahin können sich die strengen Regelhüter des Radsports ja mal vornehmen, dass sie bei Doping und anderen großen Problemen des Pelotons ebenso genau hinschauen wie bei Falschpinklern und unerlaubten Griffen zur Trinkflasche.

© SZ vom 04.09.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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