Kommentar:Ende des Stammbaums

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Nach der Rucksack-Affäre ist die Häme wieder groß, dabei ist es doch so: Alle sollten froh sein, dass sich dieser Hamburger SV ständig mit fantastischen Geschichten und irren Missgeschicken um das Amüsement des Volkes verdient macht.

Von Philipp Selldorf

Der Medienchef des Hamburger SV hat am Montag nur einen Satz sagen müssen, als ihn die Nachrichtenagentur fragte, ob das denn wirklich wahr sei, was da am Morgen in der Bild-Zeitung stand: dass dem Hamburger Sportchef Peter Knäbel der Rucksack gestohlen wurde, und dass in diesem Rucksack leider Unterlagen über die Gehälter und Verträge der Spieler steckten, und dass diese vertraulichen Dokumente dann durch eine öffentliche Parkanlage wehten, bis sich eine Altenpflegerin ihrer erbarmte und sie einsammelte. Ob also diese Geschichte, die sich so anhört, als ob sie ein volltrunkener Nachtredakteur hemmungslos erfunden hätte, tatsächlich wahr sei? "Ich kann das alles nicht dementieren", hat der HSV-Medienchef verblüffend aufrichtig erwidert, und es braucht nicht viel Fantasie, um hinter der Antwort einen Fatalismus zu spüren, der auf jahrelanger Übung im Umgang mit schlechten Nachrichten und auf viel ertragenem Leid beruht.

Erstaunlich, wie Fachkräfte den Überblick verlieren, sobald sie sich dem HSV anschließen

Knäbel ist offenbar das Opfer eines niederträchtigen Verbrechens, aber er braucht wohl nicht auf das Mitgefühl der Leute zu hoffen. Niemand wird es ihm jetzt hoch anrechnen, dass er sich die Zeit nimmt, zu Hause noch mal alles durchzusehen. Natürlich wird jetzt wieder gespottet und gehetzt. Jeder meint, er müsse sich lustig machen über den HSV, weil dieser nicht nur seine geheimen Dokumente verloren hat, sondern am Sonntag auch sein Pokalspiel beim viertklassigen FC Jena. Früher haben die Deutschen über Postbeamte gespottet, über den sich selbst verhindernden Kanzlerkandidaten Rudolf Scharping, den Bahnchef Mehdorn und die Eheschließungen von Lothar Matthäus - heute ist es allen voran der HSV, der die Häme und den Hohn auf sich zieht.

Und es ist ja erstaunlich, wie angesehene Fachkräfte augenblicklich den Überblick verlieren, sobald sie sich dem HSV anschließen. Knäbel etwa lebte 16 Jahre glücklich in der Schweiz, wo er sich als Technischer Direktor des Fußballverbandes einen guten Ruf erwarb, ehe er im vorigen Sommer in den Dienst des HSV eintrat. Seitdem nähert sich sein Ruf dem des Spielers Heiko Westermann, der für viel Geld als Nationalspieler nach Hamburg kam und im Sommer in einer Weise entsorgt wurde, als wäre sein Haltbarkeitsdatum abgelaufen.

Der HSV ist ein Phänomen der Sportwelt, über das sich philosophisch rätseln lässt. Zieht er wie eine alte Patrizierfamilie, die am Ende ihres Stammbaums angelangt ist, das Drama und das Pech an? Oder hat er absurdes Glück gehabt, als er 2014 und 2015 die Relegationsspiele überstand, obwohl er sie nach allen bekannten Regeln des Fußballs längst verloren hatte? Auf jeden Fall sollten alle froh sein, dass sich dieser Hamburger SV ständig mit fantastischen Geschichten und irren Missgeschicken um das Amüsement des Volkes verdient macht. Peter Knäbel packt seinen Rucksack - mehr braucht es nicht, um ein Land zum Lachen zu bringen. Danke, HSV.

© SZ vom 11.08.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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