Süddeutsche Zeitung

Fußball-EM:Abgekoppelt von der Basis

Es ist richtig, dem Fußball jetzt mit der EM sein großes Europafest zu erlauben. Aber es war falsch, zu vielen Menschen in der Pandemie ihren Sport zu verbieten. Die Folgen werden noch heftig zu spüren sein.

Kommentar von Claudio Catuogno

Endlich wieder Fußball! Wobei: Den Sehnsuchtsseufzer kann sich der Fan eigentlich sparen, wenn nun - mit einem Jahr Verspätung, in doch nur elf statt zwölf Ländern und in ein paar anderen Stadien als ursprünglich geplant - die paneuropäisch-pandemische Fußball-Europameisterschaft beginnt. Fußball gab es ja fast die ganze schwere Zeit über, während es vieles andere nicht gab, gescheite Schule zum Beispiel oder Theateraufführungen oder Beerdigungen mit mehr als einer Handvoll zugelassenen Trauernden. Der Fußball hat sein Hygienekonzept (Made in Germany!) schon kurz nach dem ersten Corona-Stillstand hinaus in die Welt exportiert, er hat dann die Debatten über vermeintliche Privilegien ausgehalten, er hat letztlich sein Geschäft durch die Pandemie gerettet, wie es andere Wirtschaftszweige auch versucht haben, nicht wenige mit Erfolg.

Und anders als zum Beispiel das Internationale Olympische Komitee hat Europas Fußball-Union Uefa auch nie so getan, als wäre es anders: als müsse so ein EM-Turnier jetzt das gleißende Licht am Ende des Pandemietunnels sein, das der Menschheit Mut, Zuversicht und, behaupten kann man es ja, Orientierung spendet für die Zeit nach der globalen Krise. Die Olympischen Spiele, die nur zwölf Tage nach dem Londoner EM-Finale in Tokio beginnen - also vielleicht, wenn sie nicht doch noch storniert werden - , sie werden eher kein Symbol für Aufbruch und Zuversicht. Die EM wird eine EM. Nicht mehr, aber halt auch nicht weniger.

Im April war Europa League in Piräus und Krasnodar, im Mai war Champions League in Paris und Madrid, jetzt ist EM zwischen Glasgow und Sankt Petersburg, Kopenhagen, Bukarest und München. Die Frage, ob so ein Turnier in die Zeit passt, sie stellt sich im Grunde nicht, wo doch die doppelt geimpften Rentner längst wieder neben den antigengetesteten Familien im Biergarten sitzen.

Spiele vor Zuschauern, auch in München? Am Ende hat Markus Söder da doch was machen können

Die Frage, ob es angemessen war, dass die Uefa den Veranstaltern die Zusage quasi abgepresst hat, sogar wieder vor ein bisschen Stadionpublikum zu spielen, kann man hingegen stellen. Dublin und Bilbao sind vor der Forderung in die Knie gegangen, Sevilla ist eingesprungen, Sankt Petersburg sperrt sein Stadion ein paar Mal öfter auf. München hat sich geziert, aber am Ende hat Markus Söder da doch was machen können, und zum Dank war er dann nach dem Lettland-Länderspiel neben Lothar Matthäus im RTL-Fußballtalk zu Gast. Win-win-win sozusagen.

Und jetzt also: vier Wochen fachsimpeln hinter der FFP2-Maske! Sind die Franzosen immer noch dieses furchterregende Feinfüße-Kollektiv von der WM vor drei Jahren? Gewinnen die Engländer doch mal irgendwas? Können die Spanier an dieses berauschte 6:0 anknüpfen, das sie kürzlich mal in Sevilla aufgeführt haben - gegen wen gleich noch mal? Und was ist mit den Deutschen, die ihren Bundestrainer nach 15 Jahren im Amt zum Abschiedsball bitten?

Dass sich der Fußball, wie er da nun wieder zur Aufführung kommt, im vergangenen Corona-Jahr noch weiter abgekoppelt hat von jenem Spiel, das insbesondere den Deutschen als Volkssport gilt, wird man dann erst im Herbst so richtig begreifen. Wenn sich zur neuen Saison die Kreisklasse-Mannschaften, die A- und B-Jugend-Teams, die jungen Frauen oder die Alten Herren endlich auf dem Trainingsplatz wiedersehen und sich die Frage stellen: Wieso sind wir denn nur noch sieben? Waren wir vor der Pandemie nicht mindestens elf?

Der Fehler ist nicht, dem Fußball jetzt sein großes Europafest zu erlauben. Der Fehler war, etwa in Bayern, ein Jahr lang allen über 14 Jahren ihren Sport zu nehmen, selbst im Freien und mit Sicherheitsabstand. Endlich wieder Fußball? Mit Bier und Chips vor dem Fernseher ist dieses Versprechen allenfalls halb eingelöst.

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