Und, liebe Leser, welchen Sport haben Sie zuletzt für sich entdeckt? Ein Hit in den sozialen Netzwerken ist derzeit ja der Brite James Page, der zuletzt einen Marathon im eigenen Garten lief, 42 Kilometer zwischen Kinderschaukel und Trampolin. Gut, das Projekt war eher für karitative Zwecke konzipiert und nicht für den Alltagsgebrauch. Aber auch sonst sind digitale Mitmachangebote gerade schwer beliebt, von der Jonglier-Übung mit Ex-Skiprofi Felix Neureuther bis zu Fitness und Meditation mit Weitspringerin Malaika Mihambo. Der oft zitierte Austausch zwischen Breiten- und Spitzensport, er war wohl noch nie so vital wie in Zeiten der häuslichen Isolation. Alles, was es brauchte, war eine Pandemie.
So wird nun also in den Wohnzimmern gehüpft, gepumpt, gedehnt, geschnauft, geschwitzt. Und gejoggt, denn Laufen an der freien Luft ist weiter erlaubt, sogar hier bei uns in Bayern. Selten wurde eine behördliche Empfehlung so gierig aufgegriffen, eine kleine Feldstudie in der Nachbarschaft genügt. Da fühlt man sich fast schon wieder der unterlassenen Bürgerpflicht schuldig, wenn man sich nicht in die Schlange der Läufer einreiht, mit dem gebotenen Sicherheitsabstand natürlich. Damit lässt sich übrigens auch hervorragend die eine oder andere Tempoverminderung entschuldigen. Auch schön: der Kraftzirkel im kleinen Hinterhof der Wohnung, zehn Mal 45 Sekunden mit leichten Gewichten, meist während der Mittagspause. Auch wenn man sich dann manchmal wie ein Gefängnisinsasse beim halbstündigen Freigang vorkommt.
Aber diese neue Routine hat schon was. Meist ist es ja der Passivsport, der den Alltag taktete; samstags die Bundesliga um 15.30 Uhr, sonntags der erste Slalom-Durchgang um 10.15 Uhr, kurz vor der Mixed-Staffel der Rodler. Aber jetzt, "da wir vom pochenden Bombast des großen Kommerzsports beraubt sind", wie der britische Guardian vor Kurzem dichtete, "ist wohl der Moment gekommen, Trost beim bescheidenen älteren Geschwisterkind zu suchen: den moderaten, schweißgetränkten Freuden des kleinen Sports".
In England, das muss man wissen, sind sie bei diesem Thema besonders sensibel. Sie hatten sich die Olympischen Spiele 2012 auch deshalb ins Land geholt, weil ihnen versprochen wurde, dass das Milliardenspektakel eine Nation zu mehr Bewegung animieren würde. Tatsächlich verhielt es sich mit dem Verkaufsargument wie mit so vielen der überschminkten Fünf-Ringe-Versprechen: Der Effekt verpuffte bald. Und so richtig überrascht das ja nicht: dass stundenlanges Sportgucken auf der Couch die Leute nicht unbedingt dazu treibt, am Tag danach zur Modernen Fünfkampfanlage zu pilgern oder auch nur in den Laufschuhladen. Dafür sieht es jetzt so aus, als würden nicht milliardenschwere Hochleistungsmessen die Menschen bewegen, sondern Isolation und ein leer gefegter Wettkampfkalender.
Klar, das greift ein wenig zu kurz. Wenn man nur sieht, wie verdiente Olympiaathleten gerade die Vorturner im Netz geben und sich so auch in den Dienst der Gesellschaft stellen, ergibt es schon Sinn, dass sich eine Nation ihre Bundessportler leistet. Und natürlich wäre es verfrüht, aus diesen außergewöhnlichen Zeiten einen Fitnesstrend abzuleiten, der nachhallen wird. So sehr der Verkauf von Laufbekleidung gerade anzieht, so sehr steigen die Zugriffe der einschlägigen TV- und Streaming-Portale. Und manch überambitionierter Neo-Läufer wird künftig wohl nicht zum Gewohnheitssportler, sondern Stammkunde beim Orthopäden.
Aber wer kann, der genießt jetzt erst mal seine neugewonnene Fitnessroutine. Wenn Atmung und Laufschritt eins werden, wenn man ganz im Jetzt aufgeht und alle lästigen Gedanken an Corona und Co. davonschmelzen. So hat die Isolation sogar etwas Befreiendes.