Süddeutsche Zeitung

Kölner Turnier:Der Pate

Trotz einer Hüftverletzung kämpft sich Alexander Zverev auch ins zweite Endspiel von Köln. Am Sonntag kann der Vorreiter der neuen Generation im Tennis Geschichte schreiben.

Von Milan Pavlovic, Köln

Nicht alle Tennisergebnisse erklären sich aus sich selbst heraus. Wer am Samstag das mit Spannung erwartete Kölner Halbfinale zwischen Alexander Zverev und Jannik Sinner sah, könnte sich gefragt haben, ob das wirklich die beiden Spieler waren, die zuletzt so gelobt wurden - so erratisch agierten beide. Man könnte entgegnen, dass es erstaunlich war, dass die beiden überhaupt das Date am Samstagabend wahrnehmen konnten. Das galt vor allem für Zverev. Deshalb eine kleine erklärende Reise durch die Tage von Köln.

Freitag

Am Freitagabend sieht es so aus, als könnte Zverev nicht weitermachen. Im Viertelfinale gegen den französischen Routinier Adrian Mannarino muss er sich an der Hüfte behandeln lassen. Er schlurft über den Platz, guckt fragend zur Familie, kommt zu vielen Bällen zu spät, bekommt vom Gegner ein paar fiese Stopps zu sehen, die er unmöglich erlaufen kann. Es hilft nicht, dass er bei 6:4, 5:3 vergeblich zum Matchgewinn serviert und den zweiten Satz im Tie-Break verliert. Seine Aufgabe ist sekündlich zu erwarten. Aber dann geschieht etwas, das man so fast nur aus dem Tennis kennt: Zverev wird etwas solider und macht aus wenig viel, und Mannarino begeht plötzlich viel mehr Fehler. Nach gut zweidreiviertel Stunden ist Zverev weiter, und er erklärt in einer sehr emotionalen Siegesrede, in der unvermittelt von Englisch auf Deutsch umschaltet: "Ich habe wirklich gedacht, ich muss aufgeben. Aber das wollte ich nicht. Das habe ich nie gemacht. Da muss ich schon ein gebrochenes Bein haben", sagte er. "Ich habe es durchgezogen", ergänzte er stolz: "Ich hoffe nur, das war nicht nur das Adrenalin, und es geht mir morgen gut." Und Sinner? Dafür muss man vielleicht noch weiter zurückgehen.

Donnerstag

Gilles Simon wippt leicht verlegen vom linken auf den rechten Fuß, es ist ja nicht ganz leicht, öffentlich einzugestehen, dass man eine Spaßbremse ist. Der Franzose outet sich in Köln als Fan jenes jungen Akteurs, den er gerade bezwungen hat: "Als jemand, der es liebt, Tennis zu gucken, ist Denis Shapovalov einer der Spieler, denen ich am liebsten zusehe." Noch schöner ist es nur, wenn man so einen Jungspund mit Spielintelligenz ausbremsen kann. Aber das wird zunehmend schwerer. Vielleicht wird man dereinst auf die Turniere dieses Herbstes zurückblicken als markante Eckpfeiler des Generationenwechsels auf der Tour. Natürlich, Rafael Nadal, 34, hat Anfang Oktober sein Abo auf die French Open reklamiert. Aber schon kurz zuvor beim Turnier in Hamburg war kein Halbfinalist älter als 24, es gewann der 22-jährige Andrej Rublew. "Sie sind die Zukunft unseres Sports", sagt Tennis-Fan Simon mit bewunderndem Unterton.

Der Mann aus Nizza kann das besser beurteilen als die meisten Profis. Der Franzose hat viele Spieler auf der Tour kommen und gehen sehen, kurz nach Weihnachten wird er 36 Jahre alt, er steuert auf den 500. Match-Erfolg seiner Karriere zu und hat 14 Turniere gewonnen. Dennoch gehört Simon zu jener verlorenen Generation um Richard Gasquet, Gaël Monfils und - um nicht nur Franzosen zu nennen - John Isner, David Ferrer, vielleicht sogar Philipp Kohlschreiber. In anderen Zeiten hätten sie unter sich vielleicht Grand-Slam-Titel ausgemacht. Aber so litten sie stets unter der Dominanz von Federer, Nadal und Djokovic, an denen sie regelmäßig scheiterten. Dominic Thiem war bei den US Open Anfang September der erste Spieler seit langem, der das Diktat der Big Three aushebeln konnte, aber der Österreicher ist inzwischen auch schon 27 Jahre alt und damit der Erste aus den Jahrgängen nach 1989, der einen großen Titel einheimsen konnte.

Thiem bietet sich an als Pate der neuen Generation, zusammen vielleicht mit Alexander Zverev, seinem 23-jährigen Finalgegner von New York, der trotz (oder gerade wegen) jener bitteren Endspiel-Niederlage neuerdings merklich gereift wirkt. Auf dem Weg zu seinem Titel beim ersten Kölner Turnier vor einer Woche musste Zverev nacheinander den Ansturm von drei Gegnern meistern, die so alt oder noch jünger sind als er. Dabei überzeugten Lloyd Harris, 23, Alejandro Davidovich Fokina, 21, und Félix Auger-Aliassime, 20, nicht bloß durch ihren unbekümmerten Auftritt, der jungen Menschen zu eigen ist, die mehr an Siege als an das Scheitern denken; sie bewiesen auch, dass sie sich anpassen und ihre Taktik ändern können. In dieser Woche stemmte sich Auger-Aliassime auf bemerkenswerte Art gegen den deutlich erfahreneren Egor Gerasimow, ließ sich auch nicht abschütteln, als nicht alles nach Plan lief.

Freitag

Tags darauf arbeitete sich der Kanadier, der einen Onkel in Köln hat, in einer Spätschicht in der Nacht zu Samstag (nach Zverev gegen Mannarino) ins Halbfinale. Harris kam in Antwerpen ins Viertelfinale. Und Davidovich Fokina verpasste seinerseits einen Coup in Köln (und das Halbfinale), als er nach 6:2, 5:2-Führung noch gegen Diego Schwartzman verlor, die Nummer neun der Welt aus Argentinien.

Donnerstag

All diese Talente bringen sich in Position, das Attribut Talent abzulegen. Noch finden die Routiniers Wege, mit den Youngsters klarzukommen. Simon zum Beispiel schaffte es in Köln, dass Shapovalov sich selbst schadete, indem er dem Kanadier so viele Bälle apportierte, bis der 21-Jährige zu viel versuchte und Fehler beging. Diese sahen dann zum Teil grotesk aus, waren aber vor allem jugendlicher Ungeduld geschuldet. "Denis kann so viel", sagte Simon und dachte dabei vermutlich vor allem an die famose einhändige Rückhand des Gegners, "da muss man akzeptieren, dass er viele spektakuläre Punkte macht - und versuchen zu erreichen, dass er auch die Fehler begeht." Shapolavov, Nummer zwölf der Welt, war vielleicht auch Opfer seiner eigenen Erwartungen. Er reiste vom höher dotierten Turnier in St. Petersburg an, wo er erst im Halbfinale gescheitert war - an Andrej Rublew. Der Russe ist Teil jenes Quartetts um Zverev, Stefanos Tsitsipas, 22, sowie Daniil Medwedew, 24, das sich in der Weltrangliste auf den Plätzen fünf bis acht etabliert hat.

2019/2020

In Schlagdistanz findet man fast ein Dutzend Spieler zwischen 20 und 24, aber am meisten schwärmt Simon von der Nummer 46: einem schlaksigen Teenager aus Südtirol, der beinahe Skifahrer geworden wäre. Jannik Sinner empfand es auf Dauer aber wenig herausfordernd, dass alpine Rennen nur um die 120 Sekunden dauern. Da fand er Tennis deutlich animierender. Im Spätherbst 2019 stellte er sich als Gewinner des Next-Gen-Turniers vor, und in diesem Jahr war er bei den French Open der Einzige, der Rafael Nadal in die Nähe eines Satzverlustes brachte. Eine "markante Erfahrung" nannte der 19-Jährige dieses Viertelfinale, das erst gegen Mitternacht endete, bei Temperaturen, die fast an alpine Skirennen erinnerten.

Freitag

Eine andere Lehrstunde erlebt Sinner am Freitag in Köln: ein Duell mit seinem größten Fan auf der Tour, Gilles Simon. Es wird das beste Match des Turniers, mit schier unendlich vielen Schlagvarianten, Tempowechseln und unterschiedlichen Machtverhältnissen. Sinner spielt einen blitzsauberen ersten Satz (6:3), wird im zweiten Satz durch Simons Spielintelligenz ausgehebelt (0:6), gerät im entscheidenden Satz 0:2 in Rückstand, wehrt nicht weniger als 16 Breakbälle ab, die letzten bei einer 5:4-Führung, ehe er sich nach fast 155 Minuten zum zweiten Mal für ein Halbfinale auf der großen Tour qualifiziert. Die Belohnung: ein Date mit Alexander Zverev.

Das vergangene Duell zwischen den beiden war denkwürdig - wenn auch eher wegen der begleitenden Zwischentöne. Der Deutsche trat im French-Open-Achtelfinale trotz einer Erkältung an, verlor - merklich angeschlagen - in vier Sätzen und musste sich danach Kritik gefallen lassen, warum er in Corona-Zeiten den Veranstaltern nichts gesagt hat. (Ein Corona-Test fiel negativ aus.) Seitdem hat Zverev kein Match mehr verloren.

Samstag

In dem merkwürdigen Match am Samstag schenkten sich die beiden nichts, oder anders gesagt: Sie schenkten einander im ersten Satz eine Menge Punkte durch unerzwungene Fehler. Zverev, der am Samstagmorgen ein MRT machen ließ ("Nicht ganz gesund, aber nicht so schlimm, das ich nicht hätte spielen können"), testete seinen Körper ein bisschen, schimpfte über die elektronischen Linienrichter, schmiss seinen Schläger, kassierte eine Verwarnung, klagte über laute Logen-Zuschauer, holte einen 1:4-Rückstand auf, vergab bei 5:4- und 6:5-Führungen jeweils die Gelegenheit, den ersten Satz mit eigenem Service zu beenden, profitierte aber im Tie-Break von Fehlern des offenbar vom Simon-Krimi gezeichneten Sinner. Danach verlief alles glatt, ein Break reichte zum 7:6 (3), 6:3-Erfolg. Er lobte seinen Gegner ("Ein künftiger Superstar") und erklärte, warum er selbst so emotional war: "Es war ein Heimspiel gegen einen Spieler, gegen den ich gerade verloren habe, das war immer in meinem Kopf. Ich habe gedacht: Nicht nochmal, das verliere ich heute nicht."

Sonntag

Und am Sonntag (19 Uhr, live in Eurosport) geht es für Zverev gegen Diego Schwartzman darum, als erster Profi überhaupt zwei Turniere hintereinander am selben Ort zu gewinnen.

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