Auch wenn der Zauberkünstler David Redfearn das in der Vorwoche auf seinem Instagram-Account veröffentlichte Foto von einem Teamabendessen des FC Chelsea umgehend wieder löschte, ließ es sich nicht mehr aus der Welt schaffen. Zu viele Fans der Londoner hatten das Bild bereits gesehen und in sozialen Medien vervielfältigt. Das Motiv war ja durchaus eine Rarität: Auf dem wohl nicht für die Öffentlichkeit bestimmten Schnappschuss posierte Redfearn - gebucht für dieses Event als Darsteller seiner Taschenspielertricks - neben der sonst kaum in Erscheinung tretenden Klubdirektorin Marina Granvovskaia und Trainer Thomas Tuchel. Auffallend gut gelaunt hielt Tuchel eine Herz-Spielkarte in die Kamera, dahinter waren Klubmitarbeiter zu sehen. Die Veranstaltung galt als Dankeschön an die Angestellten für ihren Einsatz.
"Was für eine Ehre!", Chelsea eine Vorführung zu geben, schrieb Redfearn, versehen mit dem Hashtag: #Magier. Wobei für die Chelsea-Fans der Magier auf dem Bild nicht Redfearn war, sondern Tuchel, der wie von Zauberhand den Klub innerhalb eines Jahres fundamental verändert hat.
Nach der Entlassung von Vereinslegende Frank Lampard übernahm Tuchel im Januar 2021 das schon damals hoch talentierte, aber planlos ins Tabellenmittelfeld abgedriftete Chelsea-Team. Mit einigen versierten Kniffen, unter anderem der Umstellung auf eine Abwehr-Dreierkette, führte Tuchel die Elf auf direktem Weg zum Titel in der Champions League. Mit dem zweiten Triumph in der Königsklasse nach 2012 ist Chelsea nun der einzige Verein, der alle relevanten internationalen Pokale mindestens doppelt gewonnen hat.
Zur Belohnung für den unverhofften Erfolg verlängerte der Vorstand auf Anweisung des Klubeigners Roman Abramowitsch den Vertrag des Trainers bis 2024 - zu deutlich verbesserten Bezügen. Tuchel, 48, scheint die bisweilen kühle, aber stringente Arbeitskultur bei Chelsea wie auf den Leib geschneidert zu sein, weil die Klublenker um Granovskaia und Sportdirektor Petr Cech nicht im Aufgabenfeld des Trainers herum intervenieren. Erfolg und Misserfolg wird daher immer am Coach selbst festgemacht, womit sich Tuchel bislang ganz gut arrangiert.
Als Krönung seiner bisherigen Zeit auf der Insel könnte Tuchel nun mit Chelsea in dieser Woche Klubweltmeister werden. Beim Mini-Turnier der Kontinentalsieger, das trotz größerer Fifa-WM-Pläne nochmals im alten Format in den Vereinigten Arabischen Emiraten stattfindet, treffen die Londoner am Mittwoch (17.30 Uhr) im Halbfinale auf Asiensieger Al-Hilal aus Saudi-Arabien. Allerdings wird Tuchel diese Partie wegen einer Corona-Infektion verpassen, schon am Samstag fehlte er bei Chelseas zähem FA-Pokalsieg gegen Drittligist Plymouth (2:1).
Die Stimmungswende gelang Tuchel mit einem taktischen Experiment
Immerhin verschafft Tuchel die unfreiwillige Quarantäne noch zusätzliche Tage der Erholung, nachdem er im Januar erstaunlich freimütig eingestanden hatte, die anspruchsvolle Spieltaktung in England habe ihn und sein von vielen Ausfällen geschwächtes Team "müde" gemacht. Angesichts der trotzdem meist dominant gestalteten Partien entstand vorübergehend der Eindruck, dass eher Tuchel eine Auszeit benötigte als seine Spieler.
Der bisweilen überehrgeizige deutsche Trainer hatte sich durch den zusätzlichen Boost eines bemerkenswert souveränen ersten Saisondrittels in der Weihnachtszeit offensichtlich in die Idee verbissen, Manchester City in der Premier League vom Thron zu stoßen - den von Pep Guardiola gecoachten Dauer-Ersten (drei Meisterschaften in vier Jahren). Nach etlichen vermeidbaren Punktverlusten sah es bald so aus, als würde Chelsea von Manchester City abgehängt werden. Doch statt diese Ergebnisflaute als unvermeidbaren Durchhänger (nach einem monatelangen Dauerhoch) zu akzeptieren, fühlte sich Tuchel durch die Ergebnismisere offenbar persönlich angegriffen - und verlor kurz die Beherrschung.
Der Charme des durchaus humorvollen Trainers wechselte in Interviews mitunter in eine gefährlich mürrische Tonart, mit der er sich über den Jahreswechsel stets zu rechtfertigen versuchte, ohne dass ihn überhaupt jemand attackiert hätte. Zudem schien Tuchel Ersatzspieler zu vergraulen, weil er - anders als von ihm gewohnt - nur noch auf die immergleichen Stammkräfte setzte. Mal rügte der Trainer die Liga (für den Umgang mit Corona), mal die Schiedsrichter (für Fehlpfiffe), mal seinen Rekordtransfer Romelu Lukaku (für ein ungeschicktes Interview und ausgelassene Torchancen) - oder er beklagte das Verletzungspech. Das sportliche Ergebnis lautete: nur noch Platz drei in der Liga, mittlerweile zehn Punkte hinter City (mit einem Spiel mehr).
Im Gegensatz zu seinem ähnlich impulsiven Trainerkollegen Jürgen Klopp, der seinem Zorn zuweilen ebenso ungehalten Luft macht, besitzt Tuchel eher nicht Klopps beneidenswerte Gabe, den Missmut durch eine gute Pointe verfliegen zu lassen. Tuchel fand stattdessen den Ausweg aus der Negativspirale durch einen gewagten Taktikwechsel. Vor dem Ligapokal-Halbfinale gegen Stadtrivale Tottenham Hotspur ließ er seine Mannschaft erstmals mit einer Viererkette verteidigen, um die Ausfälle hinten zu kompensieren. Der Prestigeerfolg über die Spurs beruhigte das nervöse Klubumfeld - und auch Tuchel, der seinen Profis daraufhin mehrere freie Tage zugestand.
Mehr Bedeutung als der unmittelbare Erfolg hat für Tuchel die Instandhaltung einer respektvollen Beziehung zu seinen Spielern. Denn im Vergleich mit Guardiola (Vertrag bis 2023) und Klopp (Vertrag bis 2024), die dem Ende ihrer Amtszeiten wohl beide näher sind als dem Anfang, spielt die Zeit für Tuchel - sofern er sich beim unsteten Chelsea mittelfristig halten kann. Mit dieser Aussicht wird er sich über den in dieser Saison wohl verpassten Meistertitel hinwegtrösten müssen. Es sei denn, David Redfearn kommt ihm noch zur Hilfe - und zaubert Manchester City von der Tabellenspitze.