Süddeutsche Zeitung

Nike Oregon Project:Perverse Auswüchse eines Systems

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Die Doping-Vorwürfe gegen Trainer Alberto Salazar waren lange bekannt. Wenn Athleten wie Konstanze Klosterhalfen nun sagen, sie seien "schockiert", muss man fragen: Worüber?

Kommentar von Johannes Knuth, Doha

Mit dem Leben, hat Lauren Fleshman vor Kurzem gesagt, eine der klügsten und unabhängigsten amerikanischen Langstreckenläuferinnen der vergangenen Jahre, sei es ja so: Jeder suche ständig nach Abkürzungen. Im Straßenverkehr, bei der Steuer, im Sport. Sie sehe das schon bei ihrem Sohn und ihrer Tochter. Und jedes Mal rufe sie sich dann ihre Rolle als Erwachsene ins Bewusstsein, die den Kindern erkläre, warum das nicht in Ordnung ist. Wer, fragte Fleshman also, war über all die Jahre der Erwachsene im Nike Oregon Project (NOP)? In den Verbänden, im Sport?

Alberto Salazar war es nicht. Der Amerikaner zog als Cheftrainer im NOP von 2010 bis 2014 ein Dopingnest auf, weshalb ihn ein Schiedsgericht nun für vier Jahre aus dem Sport verbannt hat, auch wenn Salazar alle Vorwürfe weiter abstreitet. Er ließ seinen Sportlern unerlaubt hohe Infusionen verabreichen, er log, dass die amerikanische Anti-Doping-Behörde (Usada) das abgesegnet habe, er manipulierte Patientendaten. Die Athleten hatten damals "wirklich keine Ahnung", sagte Travis Tygart am Mittwoch dem ZDF, der Vorstand der Usada, die das Verfahren gegen Salazar geführt hatte. Die Athleten, sagte Tygart, "waren Versuchstiere".

Ein System, das Leistung predigt - koste es, was es wolle

Das zielt auf das Kernproblem. Ein Athlet wächst ja selten in den Spitzensport hinein und freut sich, wenn sein Trainer ihm zuraunt, dass er sich doch bitte an die Kanüle legen soll. Der Athlet stößt zumeist auf ein System, das sich selbst kontrolliert, ohne erwachsene Aufsicht sozusagen. Das aber gleichzeitig Leistung predigt, um jeden Preis. Das können die Sponsoren besser vermarkten, die Zuschauer schöner bejubeln, die Medien blumiger besingen, und Verbänden und Trainern verspricht es Fördergelder und Verträge. Welch perverse Auswüchse das im Fall Salazar offenbar trieb, zeigt eine Email aus den Ermittlungsakten der Usada. Nike-Geschäftsführer Mark Parker verfolgt darin interessiert, wie Salazar seine Söhne am Nike-Stammsitz mit Testosteronsalben einrieb. Angeblich, um Sabotageakten gegen die eigenen Athleten vorzubeugen, die von Fremden mit Cremes eingerieben werden könnten.

Viele Vorgänge und Vorwürfe, denen das Gericht nun Gewissheit verlieh, waren seit Jahren bekannt. Tiefe Mediendossiers, Zwischenberichte der Usada. Salazars einstige Läuferin Kara Goucher schilderte vor vier Jahren, der 61-Jährige sei wie eine Vaterfigur für sie gewesen - ihr eigener war in ihrer Kindheit bei einem Autounfall gestorben -, ehe Salazar sie in Druck und Abhängigkeiten trieb. Und trotzdem waren in Doha nun diverse NOP-Athleten "schockiert", auch die Deutsche Konstanze Klosterhalfen. Aber von was? Klosterhalfens Betreuer Oliver Mintzlaff muss die Vorwürfe zumindest grob gekannt haben, er tat sie im Frühjahr als "irgendwelche Mutmaßungen" ab. Man habe sich doch am NOP-Sitz überzeugt, alles wunderbar, tolle Trainingsbedingungen. Er übernehme auch die "moralische Verantwortung" für Klosterhalfens Umzug. Und Salazar, sagte die 22-Jährige damals, sei immer so nett und lustig.

Dabei war das, wie Tygart nun ausführt, offenbar das Geschäftsmodell: Athleten mit schicken Methoden ködern, ehe sie die andere Seite des netten Alberto kennenlernten. Dass es derzeit keine Vorwürfe gegen das NOP von heute gibt, auch nicht gegen Pete Julian, Salazars langjährigen Vertrauten und Klosterhalfens Trainer, entbindet das Projekt nicht vom Schatten der Vergangenheit. Mal schauen, wie jetzt der eine oder andere seine moralische Verantwortung wahrnimmt.

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Quelle:
SZ vom 04.10.2019
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