Herthas Geschäftsführer Michael Preetz mühte sich am Dienstag kaum, seine Verwunderung zu verbergen. Er sei "überrascht worden", schrieb Preetz auf der offiziellen Homepage. Nicht nur er, sondern der ganze Verein. Es war nicht der erste Moment in Klinsmanns insgesamt nur 76 Tagen (inklusive Winterpause) als Hertha-Coach, über den man sich wundern durfte. Eine Rekonstruktion.
Hertha-Aufsichtsrat
Es hätten emotional alle verstanden, wäre Klinsmann im Herbst 2019 zum VfB Stuttgart zurückgekehrt. Klinsmann ist verwurzelt im Verein, hat fünf Jahre dort gespielt - er sagt den Schwaben für ein Führungsamt aber ab, um Anfang November ein Aufsichtsratsmandat bei Hertha BSC zu übernehmen. Immerhin: Klinsmanns Vater war früher Hertha-Fan, Klinsmann selbst ist deshalb Mitglied, sein Sohn Jonathan stand zwei Jahre lang im Kader, aber sonst? Klinsmann ist gut bekannt mit Hertha-Investor Lars Windhorst, der die Berliner bekanntlich in einen "Big-City-Club" verwandeln will, der mittelfristig um Titel mitspielen soll. Das gibt den Ausschlag.
Plötzlich Trainer
Noch ist Aufsichtsrat Klinsmann kaum beim "spannendsten Fußball-Projekt Europas" (O-Ton Klinsmann) angekommen, da trennt sich Hertha von Trainer Ante Covic. Der rangierte mit dem Team nur auf Platz 15, es soll ein neuer Coach her, der das Team wachrütteln und insgesamt etwas bigcityclubbiger vertreten soll als Covic das möglich war. Klinsmann also. Im völlig überfüllten Medienraum stellt Klinsmann klar: "Wenn ich etwas tue, mache ich es hundertprozentig." Als erste Amtshandlung verpflichtet er den früheren Nationalspieler Arne Friedrich: als "Performance Manager". Sein Aufsichtsratsamt lässt er ruhen.
Erstes Spiel, erste Niederlage
Klinsmanns Einstand als Trainer misslingt - 1:2 gegen Dortmund. Der Trainer motiviert trotzdem: "Wenn das Tor zum 2:2 gefallen wäre, geht das Ding garantiert in eine andere Richtung ab." Danach geht es zumindest ein bisschen ab: Keine Niederlage mehr bis zur Winterpause, sogar ein Überraschungssieg in Leverkusen. Anschluss ans Tabellenmittelfeld. Schönen Fußball spielt Hertha nicht immer, aber das ist erst mal nachrangig.
Die Winterpause
Klinsmann fliegt mit der Mannschaft nach Florida zum Trainingslager. Dort wird viel trainiert, Klinsmann opfert aber auch mehr als einen halben Tag, um mit der Mannschaft Investor Windhorst einen Besuch abzustatten, der mit seiner Yacht praktischerweise vor Florida liegt. Vom frühen Nachmittag bis zum Abend dauert das Treffen, es gibt Essen, Getränke, Spiele. "Es war spaßig und relaxed", sagt Klinsmann. So relaxed, dass sich Ersatztorwart Luis Klatte spontan ans Yachtklavier setzt und "Für Elise" von Beethoven spielt.
Hertha BSC:Klavierspielen auf der Yacht des Investors
Jürgen Klinsmann krempelt Hertha BSC um. Der Performance Manager führt ein Benchmarking-System und Unterwasser-Workouts ein - und das Team muss Lars Windhorst besuchen.
Große Einkaufstour
Von allen Bundesligisten legt Hertha im Winter die größte Einkaufstour hin. Mario Götze, Granit Xhaka oder Julian Draxler werden gehandelt, am Ende kommen sie alle nicht, dafür für fast 80 Millionen Euro Santiago Ascacíbar (VfB Stuttgart), Krzysztof Piatek (AC Mailand), Matheus Cunha (RB Leipzig) und Lucas Tousart (Olympique Lyon), der auf Leihbasis noch ein halbes Jahr in Frankreich bleibt. "Das ist alles vernünftig und durchgeplant", verrät Klinsmann.
Trainerlizenz in der Schublade
Große Aufregung kurz vor dem Rückrundenstart: Klinsmann fehle eine gültige Trainerlizenz, meldet die Bild. In der Tat hat der DFB keine Papiere vom früheren Bundestrainer vorliegen. Die Lizenz sei, als er nach Berlin aufgebrochen ist, zu Hause in den USA geblieben, erklärt Klinsmann entspannt: "Irgendwo in meinem Häuschen in Kalifornien, in irgendeiner Schublade. Die werden wir finden." Kurz vor dem Bayern-Spiel erkennt der Deutsche Fußball-Bund (DFB) die eingetroffenen Papiere für gültig an. Hertha verliert trotzdem klar 0:4.
Heim-Niederlage gegen Mainz
Es wird kaum besser. Hertha siegt zwar in Wolfsburg, verliert aber im Pokal gegen Schalke und in der Liga zu Hause gegen Mainz. Wieder Platz 14. Abstiegskampf. "Die Jungs sollen sich die Köpfe frei machen, mit ihren Frauen ein bisschen rausgehen und das verdauen", rät Klinsmann drei Tage vor seinem Rücktritt.
Der Rücktritt
Der kommt am Dienstagmorgen so überraschend via Klinsmanns Facebook-Seite, dass geprüft werden muss, ob nicht irgendwer den Account gehackt und sich einen Spaß erlaubt hat. Doch es ist Ernst. "Gerade im Abstiegskampf sind Einheit, Zusammenhalt und Konzentration auf das Wesentliche die wichtigsten Elemente", schreibt Klinsmann: "Sind die nicht garantiert, kann ich mein Potenzial als Trainer nicht ausschöpfen und kann meiner Verantwortung somit auch nicht gerecht werden." Das klingt schon nach Kritik an Geschäftsführer Preetz. Investor Windhorst meldet sich via Bild: Er bedauert den Rücktritt Klinsmanns "sehr". Die Mannschaft übernimmt vorerst Co-Trainer Alexander Nouri.