Süddeutsche Zeitung

Klettern:Nach dem Ende der Welt

Aufgrund eines Darmdurchbruchs, einer Notoperation und 16 Tagen Koma wurde Michael Füchsle zum Pflegefall erklärt. Nun startet er als Para-Sportler bei der WM.

Von Max Länge

Eigentlich sollte Michael Füchsle Ende des vergangenen Jahres in Bangalore an einer Kletterwand baumeln. Eigentlich. Doch eigentlich hätte Füchsle nicht klettern, sondern in Deutschland auf dem OP-Tisch liegen sollen. Und eigentlich hätte er auf diesem OP-Tisch auch liegen können, denn der Weltcup im Para-Klettern in Indien, der letzte in dieser Saison, wurde abgesagt. Aber Füchsle erklimmt im Winter lieber die Felsen in Südfrankreich und auf Mallorca, wo es noch gut 15, 20 Grad hat. Die letzten Sonnenstrahlen des Jahres statt künstlich, greller Kletterhallen- oder OP-Saal-Beleuchtung.

Michael Füchsle, 50, sitzt in der Cafeteria der Kletterhalle in München-Freimann und erzählt seine Geschichte. Er ist Para-Sportler, also gehandicapter Kletterer, der zweitbeste der Welt in seiner Schadensklasse - und das Wort "eigentlich" hat er aus seinem Vokabular gestrichen. Denn eigentlich sollte Füchsle überhaupt nicht mehr klettern können.

Eine chronische Darmkrankheit schränkte den damaligen Profi-Bergsteiger aus Bobingen im Landkreis Augsburg 2004 so stark ein, dass er nur mit Hilfe von Medikamenten weiter Sport machen konnte. Colitis ulcerosa vermuteten die Ärzte zunächst, eine Entzündung der Dickdarm-Schleimhaut. Später stellte sich heraus: Füchsle hat Morbus Crohn, der ganze Verdauungstrakt ist entzündet. Er behandelte mit Cortison, doch die Tabletten wirkten bald nicht mehr, weil er zu viele nahm. Die Entzündung wurde schlimmer. "Und dann hat es Peng gemacht", sagt Füchsle. Der Darm brach durch. Notoperation wegen Blutvergiftung. 16 Tage Koma. Als Füchsle aufwachte, war er ab dem Hals gelähmt.

Mit einem Knall brach Füchsles Welt in sich zusammen, eine Welt voller Berggipfel, Kletterbücher und Schürfwunden an den Fingern. Der Traum von der Besteigung der Eiger Nordwand rückte in weite Ferne. Die Ärzte gaben ihm geringe Aussicht auf vollständige Genesung, die Eltern sollten für den Sohn einen Vollzeitpflegeplatz suchen.

Der hagere Mann, der da 13 Jahre später mit zum Zopf gebundenen Haaren und ärmellosem Klettershirt in der Halle sitzt, ist kein Pflegefall. Man sieht Michael Füchsle auf den ersten Blick nicht an, dass er zu 90 Prozent schwerbehindert ist. Dann steht er auf und zeigt, dass ihn die Lähmungen noch heute einschränken: Er hebt die Arme seitlich nach oben. Auf Schulterhöhe endet seine Bewegung, als sei da eine unsichtbare Blockade, die verhindern will, dass er sich ganz lang macht. "Komischerweise habe ich beim Klettern weniger Probleme", sagt Füchsle. Erklären kann er sich das nicht, "die Ärzte wissen auch nicht, warum das so ist". Vielleicht, weil sein Körper an der Kletterwand mehr unter Spannung steht, vermutet er.

Die Geschichte seiner Rückkehr ins Leben erzählt Füchsle ohne Glamour, auf Fragen antwortet er so knapp wie möglich. Er wollte sich im Gegensatz zu den Ärzten nicht so schnell aufgeben. Früh habe er begonnen, im Krankenhaus mit Hanteln zu trainieren. Die Lähmungen gingen zurück. Mehr als 20 Meter aber konnte er nicht am Stück laufen, er war frustriert. Auch, weil ihn ein Großteil seines Freundeskreises im Stich ließ: "80 bis 90 Prozent meiner damaligen Freunde haben gesagt, sie wollen mit mir nichts mehr zu tun haben, zum Großteil wegen des künstlichen Darmausgangs." Seine Freundin habe ihm noch im Krankenhaus den Verlobungsring auf den Tisch geknallt. Sie habe Angst gehabt, dass er ein Pflegefall bleibe. "Das war mir aber egal", sagt er, so im Delirium sei er nach dem Koma gewesen.

Füchsles Rückkehr ins Leben ist kein glamouröses Thema. Auf Darmdurchbruch und Koma folgten etliche Operationen. Er bekam einen künstlichen Darmausgang an die Bauchdecke gelegt. Darüber zu reden, dass der Stuhl in einem weißen Plastiksack fließt, der außen am Körper auf Höhe des Darms angeschlossen ist, fällt vielen Leuten schwer. Füchsle spricht darüber, formuliert sorgfältig, macht Denkpausen. Die Stille ist ihm nicht unangenehm. Im Bereich seines Bauches gluckert es leise, aber unüberhörbar.

Ans Klettern dachte Füchsle bis 2012 nicht, die großen Fortschritte in der Reha blieben aus. Dann lernte er im Internet seine neue Freundin kennen. Sie motivierte ihn, wieder an die Kletterwand zu gehen. Dort klappte das, was sonst nicht klappt: Füchsle konnte Arme und Beine strecken. Er hatte einen neuen Ansporn, er steigerte sich von Wandern zu Bouldern - und ging schließlich auch wieder an die großen Wände. Der Unterschied zu früher: Er muss aufpassen, dass der weiße Plastiksack, der beim Klettern durch eine Bandage am Körper befestigt ist, nicht unter den Klettergurt rutscht und abreißt: "Eine Mordssauerei wäre das." Die Route müsste er dann abbrechen, passiert ist ihm das noch nie.

Heute trainiert er fünfmal pro Woche, meist ohne Gurt an der Boulderwand. Nebenher gibt er in Augsburg, Ingolstadt und Pfaffenhofen Kurse für den Nachwuchs. Sein Ehrgeiz ist so groß, dass er sogar wieder bei Wettkämpfen antritt, für Deutschland gegen die besten Para-Kletterer der Welt. Er kann, mit Hilfe von Sponsoren, wieder von seinem Sport leben, wie bereits vor dem Darmdurchbruch.

Zwischen Turnieren im Frankenjura, in Briancon und in München geht Füchsle regelmäßig zum Gesundheitscheck. Vor einem Jahr traten neue Komplikationen auf. So genannte Fisteln, eitrige Gänge im Körper, sollten sofort operiert werden. Eine erneute Blutvergiftung drohte. Doch der Kletterer hatte anderes im Sinn: "Durch eine OP hätte ich die ersten Wettkämpfe der Saison verpasst." Füchsle entschied sich für das Risiko, erneut in Lebensgefahr zu schweben, und gegen das Risiko, aus dem Nationalkader zu fliegen. "Ja", sagt er, "das ist vielleicht ein bisschen leichtsinnig, ich weiß." Im Nachhinein stellte sich heraus, dass die Operation zumindest vorerst nicht mehr nötig war. Die Fisteln sind zurückgegangen, der Eingriff ist nicht mehr akut. Doch das kann sich jederzeit ändern.

Aus sportlicher Sicht hat sich das Risiko gelohnt. Zuletzt belegte Füchsle beim Weltcup der gehandicapten Kletterer in Sheffield Platz zwei. Nur ein paar Züge fehlten zum Sieg. Und da der Wettkampf im Dezember in Indien kurzfristig und ohne Begründung abgesagt wurde, stand das Ergebnis im Gesamtweltcup fest: Füchsle beendet die Saison auf Platz zwei in seiner Schadensklasse der neurologisch Gehandicapten (RP2). In diesem Jahr möchte er ganz oben angreifen, vielleicht zum letzten Mal. Dann finden im September in Innsbruck die Weltmeisterschaften statt, gemeinsam mit den Meisterschaften der nicht gehandicapten Kletterer.

Eigentlich lässt sich nicht vorhersehen, ob Michael Füchsle dann fit ist. Aber eigentlich kann er ja auch nicht mehr klettern.

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Quelle:
SZ vom 31.01.2018
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