KletternSieben Tage in der Wand

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„Das Mentale spielt eine entscheidende Rolle und ist in langen Routen schlussendlich wichtiger als reine körperliche Stärke“: Extrem-Kletterin Lara Neumeier.
„Das Mentale spielt eine entscheidende Rolle und ist in langen Routen schlussendlich wichtiger als reine körperliche Stärke“: Extrem-Kletterin Lara Neumeier. (Foto: oh)

Die Allgäuerin Lara Neumeier hat als erste Frau die 8b+-Route „Psychogramm“ gemeistert. Ihr nächstes Projekt ist in Planung – am berüchtigten El Capitan in Kalifornien.

Von Nadine Regel

Manchmal besteht die größte Herausforderung beim Felsklettern darin, eine Route überhaupt absichern zu können. Beim sogenannten Psychogramm an der Bürser Platte in Österreich bedeutet das, dass in der Schlüsselstelle ausschließlich winzige Mikrokeile zur Absicherung infrage kommen. Das sind besonders schmale Klemmkeile, die sich in feine Risse verkeilen lassen – so schmal, dass nicht einmal ein kleiner Finger hineinpasst. An jedem Keil hängt eine Drahtschlaufe, in die der Sicherungskarabiner eingehängt wird – und daran das Seil. Doch ob diese Absicherung auch hält?

Dieser Stil des Kletterns wird als Trad-Klettern bezeichnet – traditionelles Klettern, bei dem die Absicherung komplett selbst gelegt wird. Genau dieser Herausforderung wollte sich Lara Neumeier in diesem Winter stellen. Sie projektierte insgesamt sieben Tage lang an der Route Psychogramm (8b+) – doch eigentlich hatte sie schon ihr ganzes Leben darauf hingearbeitet.

Bereits als Kleinkind trug sie ihren ersten Klettergurt. Geboren im Allgäu, dem sie sich „immer noch sehr verbunden“ fühlt, wuchs sie in Steingaden auf, einem kleinen Ort im angrenzenden Oberbayern, erzählt die 26-Jährige im Videocall. Aktuell ist sie im Surf-Urlaub auf Teneriffa. Ein prägendes Erlebnis hatte sie in ihrer Heimat in der Nähe von Füssen, als ihr Vater an einem Kinderkletterfelsen mehrere gut gesicherte Routen einrichtete. Nach mehreren Versuchen gelang ihr die Route Karlsson vom Dach, ein erster persönlicher Erfolg mit zehn Jahren – und ihre Begeisterung für den Sport war entfacht.

Beim Bigwall-Klettern verbringt Lara Neumeier mehrere Tage in einer Wand und schläft in einem Wandzelt

Im Gymnasium kam sie erstmals mit dem Hallenklettern in Berührung, nahm auch an Wettkämpfen teil, entschied sich aber mit 17 Jahren, ihre Wettkampfkarriere zu beenden. Nach dem Abitur nahm sie sich eine Auszeit, um zu reisen und sich ganz dem Felsklettern zu widmen. Neben Sportkletterrouten bis 8c+ und anspruchsvollen Trad-Routen in England gelangen ihr auch Begehungen schwerer Mehrseillängenrouten wie Hotel Supramonte (8b) und Delicatessen (8b). Während dieser Auszeit lernte sie Babsi Zangerl kennen – eine Begegnung, die ihren Weg entscheidend prägte.

Die Arlbergerin gilt als eine der stärksten und erfolgreichsten Bigwall-Kletterinnen der Welt und wurde Neumeiers Kletter-Freundin und Mentorin. Bigwall-Klettern ist die ultimative Kletterdisziplin, bei der man tagelang in einer Wand verbringt, in einer Portaledge – einem Wandzelt – schläft und Hunderte Meter in der Vertikalen zurücklegt.

Nach ihrem Bachelor in BWL und einem Master in Marketing entschied sich Lara Neumeier, gemeinsam mit Babsi Zangerl 2023 für ein Projekt in den Yosemite-Nationalpark in den USA zu reisen und ihre erste Bigwall-Route am legendären El Capitan zu klettern, einem hellbeigen Monolithen, an dem schon viele Generationen Klettergeschichte geschrieben haben.

Die beiden meisterten El Corazon, mit 35 Seillängen bis 8a – eine Erfahrung, die Neumeier gleichermaßen faszinierte und erschreckte. Sie empfand zum ersten Mal Angst, ein Gefühl, das sie beim Klettern bis dahin nicht kannte. „Nach dem Projekt wollte ich eigentlich nie wieder in eine Bigwall einsteigen“, sagt sie. Doch nur ein Jahr später wagte sie es erneut – und diesmal fühlte es sich schon viel besser an. Gemeinsam mit ihrem Kletterpartner Nemuel Feurle beging sie die Route El Niño über die Pineapple Express Variation (800 Meter, 8a+) am El Capitan im freien Stil.

Als sie im Winter Babsi Zangerl am Arlberg besuchte, fuhr sie mit ihr zur Bürser Platte, die vor allem wegen der Route Prinzip Hoffnung (8b/8b+) weltweit bekannt ist. Die Wand sieht aus, als wäre sie mit einem Filetiermesser abgetrennt. Durch die Südausrichtung scheint auch im Winter die Sonne darauf. Sie liegt direkt im Ortsteil Bürs am Westrand von Bludenz, im Hintergrund ragen schneebedeckte Gipfel auf. Neumeiers Aufmerksamkeit fiel jedoch auf Psychogramm, „eine wunderschöne Linie“, erstbegangen vom bekannten Österreicher Alex Luger. Neben der schwierigen Absicherung ist die Tour für einen extremen Längenzug bekannt, der hauptsächlich kleinere Kletterer abschreckt. Lara Neumeier, mit einer Körpergröße von 169 und einer Spannweite von 171 Zentimetern, fühlte sich dem gewachsen.

Im Bigwall- und Trad-Klettern können Frauen mit Männern gleichziehen, es zählt hauptsächlich die mentale Stärke

Ende Februar kehrte sie bei wärmeren Bedingungen zurück und probierte die Züge im Toprope, also mit von oben eingehängtem Seil. Dann kamen die Mikrokeile ins Spiel – und sie versuchte, sich mental mit der latenten Bodensturzgefahr anzufreunden. Denn obwohl sie in der Schlüsselstelle mehrere Klemmkeile untereinander verbaute, wusste sie nicht sicher, ob diese einen Sturz tatsächlich halten würden. Auf Anraten erfahrener Trad-Kletterer entschied sie sich, gesichert an zwei Seilen zu klettern. Das zweite Seil fungierte als Backup und war an einem stabileren Sicherungspunkt eingehängt – doch auch das war keine Sicherheitsgarantie.

Schließlich konnte Neumeier die gesamte Route mit eigenem Material absichern und Anfang März durchsteigen – also im cleanen Stil begehen. Dass es sich dabei um die erste weibliche Begehung handelte, war für sie nur eine Randnotiz. Sie hält solche Unterscheidungen nach Geschlecht im Klettern für unnötig. „Für mich war das einfach nur die vierte Wiederholung der Route“, sagt sie. Bei der Wahl ihrer Kletterprojekte zählen für sie eher die Herausforderung und die Schönheit der Linie – nicht, ob eine Frau oder ein Mann die Route vorher geklettert hat. Und überhaupt: Frauen könnten im Klettern, insbesondere im Bigwall- und Trad-Klettern, mit Männern gleichziehen. „Das Mentale spielt eine entscheidende Rolle“, sagt sie – und ist in langen Routen schlussendlich wichtiger als reine körperliche Stärke.

Diesen Sommer plant Lara Neumeier die Begehung der Alpinen Trilogie – eines der herausforderndsten Kletterprojekte in den Alpen. Damit folgt sie erneut den Spuren ihrer starken Mentorin, die diese Begehung bereits gemeistert hat. Auch ihr nächstes Bigwall-Projekt am El Capitan im Herbst ist schon in Planung. Dann wird sie wieder besonders viel Zeit in der Wand verbringen und das erleben, was sie am Klettern so fasziniert: den Zustand völliger Konzentration und Achtsamkeit – wenn sie weder an die Vergangenheit noch an die Zukunft denkt, sondern nur an das Klettern selbst.

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