Die Kitzbüheler Streif auf Skiern ist ein Wagnis, es sei denn, man ist Zuschauer und kurvt konzentriert außerhalb der Fangzäune die sogenannte Parallelstreif hinab. Gegen Ende dieser Abfahrt biegen die Hobbyskifahrer um eine Kurve und landen bei einem zweiten Starthäuschen. Es steht etwas versteckt am Waldrand des Ganslernhanges, oder wie ihn der Skirennläufer Linus Straßer einst nannte: den „Schweinsberg“.
Ziemlich genau drei Jahre ist es her, als Straßer seine persönliche Umtaufe vornahm, und so mancher wunderte sich darüber. Müsste dieser Hang nicht eher sein Hausberg sein, wo er doch mit seiner Familie im sieben Kilometer entfernten Kirchberg lebt?
Tatsächlich nahm die Geschichte eine Wendung, als Linus Straßer vor einem Jahr den Slalom von Kitzbühel gewann. Da war der Schweinsberg Geschichte. Straßer gewann den Pokal, den die Kitzbüheler in Form einer Gams überreichen, und so wendete sich für Straßer die ganze Saison zum Guten, drei Tage später gewann er auch noch den Nachtslalom von Schladming – und beinahe die Gesamtwertung.
Die zuletzt wenig erfolgsverwöhnten deutschen Skifans dürfte in diesem WM-Winter die Frage beschäftigen, ob sich nun Geschichte wiederholt.

Ski alpin:Auf der Jagd nach der Vonn, die sie einmal war
Wo Lindsey Vonn im Ski-Weltcup auftaucht, dreht sich alles um die 40-Jährige. Doch bei ihrem Comeback muss sie Rückschritte hinnehmen. Ihr Ehrgeiz ist der alte, die Ergebnisse nähren indes neue Zweifel.
Es läuft, ähnlich wie zunächst vergangene Saison, nicht optimal für den Mann vom TSV 1860 München. Nach mehreren Ausfällen vor Weihnachten stabilisierte sich Straßer zuletzt: Vierter in Adelboden, Sechster in Madonna, das waren seine beiden besten Ergebnisse, Rang 13 im Slalom-Gesamtweltcup dürfte aber kaum sein Anspruch sein nach Platz zwei im vergangenen Winter. Der alljährliche Doppelschlag aus Kitzbühel und Schladming könnte nun abermals zum Wendepunkt werden, je nachdem, wie gut Straßer und der Ganslern diesmal harmonieren.
Drei Tage vor dem Slalomrennen sitzt der 32-Jährige bei sich daheim in Kirchberg, nicht im Wohnzimmer, sondern im Hotel, wo die wenigen verbliebenen Fahrer des Deutschen Skiverbands übernachten. Straßer wirkt trotz alledem auffällig vergnügt, als habe der Heimvorteil die Sorgen der vergangenen Monate durch positives Gedankengut ersetzt. Es hätte ihn ja auch ärger erwischen können, etwa durch eine Verletzung. „Ich bin froh, dass ich kein Abfahrer bin, da wäre ich vor Bormio immer krank“, erklärt Straßer. Dann widmet er sich dem Ganslernhang.
Es folgt fast wie einst ein Exkurs ins Tierreich, diesmal nähert Straßer sich aber über die Kitz-Trophäe aus dem Vorjahr. „Die Gams ist ein Rudeltier, ich hätte noch Platz für weitere“, sagte Straßer und erwies sich alsbald metaphorisch als ähnlich variabel wie beim Carven auf der Piste. Die Skifahrerei sei wie ein Puzzle, so Straßer. „Es sind oft nur Kleinigkeiten, die noch fehlen.“ Was ihn vergangenen Winter in seiner vielleicht besten Karrierephase ausgezeichnet habe, „war die Mittellage über dem Ski“. Derzeit gerate er „häufiger in die Phase, dass ich sie verliere“.
Zuletzt ist er seltener in unfreiwillige Rücklage geraten
Straßer meint damit die Position des Fahrers über dem Ski, während er um die Slalomstangen kurvt. Idealerweise ist der Rennläufer in einer Hochtiefbewegung unterwegs, die durch die Kniegelenke erfolgt. Die Haltung des Oberkörpers sollte dabei – trotz aller Schläge und Eisfurchen – möglichst ruhig und in leichter Vorlage bleiben. Anlässe, mehr unfreiwillig in Rücklage zu geraten, gibt es allerdings reichlich, wenn etwa ein unsichtbarer Eisbrocken die Fahrlinie stört, oder eben tiefe Löcher in der Spur die Skispitzen in die Höhe treiben. Vor dem Jahreswechsel war Straßer dies häufiger passiert, zuletzt wieder seltener. Er empfinde es so, „dass das Schritt für Schritt besser wird, dass ich das besser in den Griff bekomme“.
Die Streifabfahrt am Samstag (11.30 Uhr) gilt traditionell als Höhepunkt des Kitzbühel-Wochenendes. Wer die vielen Stürze am Freitag beim Super-G mitbekommen hat, dürfte jedoch ins Grübeln kommen. Beim Slalom am Sonntag (10.15 Uhr und 13.30 Uhr) dürften deutlich weniger Helikopterflüge zu sehen sein. Was nicht heißt, dass Slalomrennen unverfänglich sind, im Gegenteil, das weiß Linus Straßer, auch er hat mehr als einmal eingefädelt und schied aus, das ist die Bosheit dieser Disziplin. Mit der kleinen positiven Nebenwirkung, dass dabei nur selten ein Kreuzband reißt. Die engen Abstände zwischen den Torstangen wirken wie ein Tempolimit.
Aus deutscher Sicht entwickelt sich der Slalom tatsächlich zunehmend zur mehr als heimlichen alpinen Königsdisziplin, angefangen bei der Ära des Slalomkünstlers Felix Neureuther, der auch nach seinem Karriereende bis heute über den Skisport hinausstrahlt – oder eben einen Schatten wirft auf all jene, die nach ihm kamen. „Meine Kindheit war eher geprägt von den Abfahrern“, sagt Straßer. In seinen ersten Erinnerungen habe er „gar nicht gewusst, dass es einen Slalom gibt“. Die deutschen Slalomfahrer Fritz Dopfer und Neureuther waren lange seine Begleiter und Gefährten, aber „geprägt hat mich jetzt nicht wirklich jemand“.
Noch rutschen und kurven die Skifahrer am Ganslernhang vorbei, ohne ihm groß Beachtung zu schenken. Dieser Piste, die für Straßer seit jeher ein besonderer Ort war. Hier hat er das Skifahren erlernt, Straßer ist nicht nur Münchner Skilöwe, sondern auch Mitglied im Kitzbüheler Ski-Club. Und er wohnt hier nicht nur, er lebt hier auch, mit seiner Tochter und seiner Frau, mit der er nach dem vergangenen Winter eines Tages wie so oft in Kitzbühel beim Mittagessen war, ehe sie beide zum sogenannten Legendenpark schlenderten. „Da gibt es so eine große Tafel mit den Siegern, da war ich schon eingetragen bei den Deutschen“, so Straßer. In dem Moment habe er zum Ganslernhang hinaufgeschaut. „Das war davor schwierig“, erzählt Straßer. „Jetzt war das ein sehr friedvolles Gefühl, ich habe meinen Frieden geschlossen.“