Dass Zlatan Ibrahimovic das Gefühl Ehrfurcht kennt, war bis dato zu bezweifeln. Doch dann nahm der ehemalige Fußballer am Fuße des Hahnenkamms Platz, er begnügte sich mit Reihe zwei – und wirkte ehrlich beeindruckt. „Ich wünschte, ich wäre ein Skifahrer“, sagte er alsbald am Kitzbüheler Stadionmikrofon. Sein Skilehrer habe allerdings wenig getaugt, weshalb er den Mann gefeuert und selbst nie Skifahren gelernt habe. Einige Meter weiter saß Arnold Schwarzenegger, er kennt den Wahnsinn der Streifabfahrt schon länger und hielt sich kurz. „I’ll be back“, erklärte der Terminator. Ein Satz, der auch von all den Skifahrern stammen könnte, die in all den Jahren von der Streif abgeworfen wurden.
Auch Zuseher wie Ralf Rangnick, Maria Höfl-Riesch und Melissa Naschenweng trugen zur Tribünenshow bei. Auf der größten Bühne, die der alpine Skisport zu bieten hat, übernahm indes ein Kanadier vor 45 000 Gästen die Hauptrolle. James Crawford aus Whistler, der bisher noch nie ein Weltcuprennen gewonnen hatte, rauschte mit Startnummer 20 wie eine lebende Kanonenkugel ins Tal; sauber im Steilen wie im Flacheren war er unterwegs, gar in der Traverse, ehe er mit 140 Kilometern pro Stunde im Zielsprung ins Ziel schoss und dem Schweizer Alexis Monney noch den Sieg entriss. Acht Hundertstelsekunden hatte Crawford am Ende Vorsprung, 2,33 Metern entspricht das auf der Piste. Und weil Crawfords Teamkollege Cameron Alexander mit 22 Hundertstelsekunden Rückstand Dritter wurde, lag ein Hauch von kanadischer Nostalgie in der Kitzbüheler Luft: Als würden die berühmten Crazy Canucks aus den 1970er-Jahren wieder über die Eispisten rasen.

Meinung Die Streif:Der alpine Skisport verzeiht kaum noch Fehler. Die aktuelle Sturzserie ist ein inakzeptabler Zustand
Zeuge seines wilden Ritts über die Hausbergkante war unter anderem der Sänger James Blunt, der dem ORF erklärt hatte, dass es „keinen Song gibt, der hart genug für die Streif“ sei. Formel-1-Fahrer Nico Hülkenberg trug auf seine Weise zur Einordnung des Kitzbüheler Abfahrtsrennens bei. Sein Sport sei im Vergleich weniger gefährlich, so Hülkenberg. „Wir sitzen im Auto, aber die Skifahrer haben keine Knautschzone.“
Die beste Nachricht für alle Skifans am Samstag war, dass die zunehmend intensivere Sicherheitsdebatte für einen Tag pausieren durfte. Der Mythos Streif musste diesmal nicht um ein weiteres Kapitel schwerer Stürze erweitert werden, es kam zwar zu einigen wenigen Ausfällen, kein Vergleich aber zu den 14 Ausfällen samt zweier Helikopterflüge beim Super-G am Vortag. Stattdessen konnte man den ganz großen Rahmen spannen. Arnold Schwarzenegger dürfte sich erinnern an die Kanadier Jim Hunter, Dave Irwin, Ken Read, Dave Murray, Steve Podborski und Todd Brooker, die in den Siebzigern und Achtzigern an der Dominanz der Europäer rüttelten, in ihren knallgelben Trikots zu Abfahrtsweltcups und Medaillen rasten. (Brooker war 1983 der bislang letzte kanadische Abfahrtssieger auf der Streif.) Inzwischen tragen die Kanadier ein vergleichsweise unauffälliges Dunkelblau.

James Crawford ist zu eigen, dass er anders als etwa Erik Guay, einer seiner Vorgänger, weniger im Verdacht steht, sich die Kitzbüheler oder demnächst Garmischer Nächte um die Ohren zu schlagen. Crawford ist einer dieser vielen Hochbegabten im heutigen Alpinsport, dem die Eltern früh die Schienen auslegten, auf denen er in eine mustergültige Karriere aufbrach. Er fuhr in den Skiklubs in Kanadas Vorzeige-Skigebiet Whistler, ging dort später zur Schule. Er dachte für eine Weile, dass er auch ein passabler Eishockeyspieler werden könnte, trieb sich diesen Gedanken dann rasch aus, als er in der achten Klasse ein Jahr mit Connor McDavid in der Schulauswahl spielte. McDavid, heute Teamkollege Leon Draisaitls bei den Edmonton Oilers, bestimmte schon damals das Eishockey wie ein junger Marco Odermatt den Skisport, und so wandte sich Crawford dann doch dem Skifahren zu. Mit 19 Jahren ließen ihn die Trainer im Weltcup auf der schwersten Piste überhaupt debütieren: der Kitzbüheler Streif, auf der er nun sogar schneller war als der Dominator Odermatt und alle anderen.

Der Schweizer hatte eine solide Fahrt abgeliefert, doch nachdem der Kanadier Alexander den Hausberg bezwungen hatte, war klar, dass auch Odermatt, der tags zuvor den Super-G gewonnen hatte, zu den Geschlagenen dieser Abfahrt gehören würde. Er stand im Zielraum und ärgerte sich mit seiner Trinkflasche herum. Er hatte sie offenbar unsauber verschlossen, und während er schüttelte, spritzte das Getränk ihm auf die Hände. Also buckelte sich Odermatt hinab, schraubte den Deckel nun sachgemäß auf die Flasche, nahm einen ordentlichen Schluck und machte sich auf den Weg Richtung Ausgang, wo ihm Alexander noch mit dem Sturzhelm auf dem Kopf von der Piste entgegenkam und im Vorbeigehen auf die Schulter klopfte.
Der drittälteste Profi dieses Rennens, Romed Baumann, kam als bester von nur zwei Startern des Deutschen Skiverbands als 18. ins Ziel. Mit 39 Jahren hält er noch immer mit der Weltelite mit, sein Auftritt am Samstag war sein 21. bei einer Streif-Abfahrt. Das Heimpublikum hatte sich indes schon auf eine österreichische Stockerlplatzierung eingestellt, weil Daniel Hemetsberger nach seiner blitzsauberen Fahrt als bis dato Drittschnellster den Kitzbüheler Zielstrich überquert hatte. Doch dann kam die kanadische Kanonenkugel.
Alexanders Teamkollege Crawford dürfte sich angesichts der vielen Mikrofone an den Februar 2023 erinnert fühlen, als ihn im französischen Courchevel plötzlich Reporter umzingelt hatten, weil er soeben den WM-Titel im Super-G gewonnen hatte – ähnlich überraschend wie nun sein Abfahrtssieg in Kitzbühel, wie er selbst erahnen ließ. „Ich bin hier ohne Erwartungen reingegangen“, sagte Crawford. „Hier zu gewinnen, ist der Traum.“ Für Zlatan Ibrahimovic interessierten sich nunmehr die wenigsten.