Kitzbühel: Abfahrt:Die neue Nachdenklichkeit

Die Streif ist die spektakulärste und gefährlichste Abfahrt der Welt - doch nach dem schweren Trainingsunfall von Hans Grugger fahren einige Alpine vorsichtiger als sonst. Dem Schweizer Didier Cuche gelingt ein historischer Triumph.

Michael Neudecker, Kitzbühel

Es war schon bald zwei und die Sonne über Kitzbühel längst von den Wolken verdrängt worden, als Andreas Sander im Zielraum ankam. Schwierig sei es gewesen, hier hinunterzufahren, "sehr schwierig", sagte Sander, und fügte dann gleich hinzu: "Aber es hat Spaß gemacht."

Andreas Sander aus Ennepetal bei Wuppertal ist 21 Jahre alt, es war das erste Mal für ihn, dieses Abfahrtsrennen zu fahren: in Kitzbühel, das Hahnenkammrennen auf der Streif, das berühmteste Skirennen der Welt. Und das gefährlichste, in den vergangenen Tagen war das mal wieder unerfreulich deutlich geworden.

Sander war in diesem Jahr der einzige Deutsche, der ins Ziel kam, der zweite Starter, Tobias Stechert, schlitterte bei der engen Ausfahrt aus dem Steilhang am Fangnetz entlang, ohne zu stürzen zwar, aber das Rennen war für ihn dennoch beendet. Sander, mit Nummer 49 gestartet, wurde 37., er verpasste damit die Punkteränge - und doch muss man Respekt vor ihm haben. Weil er überhaupt gefahren ist, und zwar so, wie man die Streif fahren muss: kompromisslos.

Um am Ende besser platziert zu sein, bräuchte es vieles, was Sander naturgemäß noch fehlt, Routine, aus zahlreichen Kitzbühel-Starts erwachsene Streckenkenntnis, eine niedrigere Startnummer. Also: alles, was Didier Cuche schon hat. Der Schweizer Cuche gewann die diesjährige Kitzbühel-Abfahrt vor dem Amerikaner Bode Miller und dem Franzosen Adrien Theaux. Andreas Sander sagt, er sei Cuche-Fan, "es ist Wahnsinn, wie der da runtergefahren ist".

Das stimmt: Didier Cuche war eine wahrlich famose Fahrt gelungen. Mit Nummer 18 ins Rennen gegangen, lag er zwar im oberen Streckenabschnitt noch hinter Miller, dann aber fuhr er fehlerfrei bis ins Ziel. Er distanzierte Miller um beeindruckende 98 Hundertstelsekunden, ein derartiger Vorsprung ist selten bei einer Abfahrt, zumal auf der Streif.

Cuche gelang damit Historisches: Er wurde mit 36 Jahren und fünf Monaten der älteste Abfahrtssieger der Geschichte, und er holte den Österreicher Franz Klammer ein, der als bislang einziger Alpiner auf der Streif vier Abfahrtssiege geschafft hatte.

Der Sturz von Siegmar Klotz

Cuche hat, so sagt es Bode Miller, als er dreieinhalb Stunden nach Rennstart im Pressezentrum sitzt, "seinen Plan voll durchgezogen". Er selbst dagegen habe das nicht gemacht: "Ich habe nicht voll riskiert", weil volles Risiko auf dieser Strecke "zu ernsthaften Verletzungen" führen könne, sagt Miller.

Men's Downhill race in Kitzbuehel

Didier Cuche auf dem Weg zu seinem Erfolg auf der Streif in Kitzbühel.

(Foto: dpa)

Die Szene stand noch immer unter dem Eindruck des schwerwiegenden Trainingssturzes von Hans Grugger, dem Österreicher. Nach offizieller Mitteilung des Österreichischen Ski-Verbandes von Samstagvormittag befinde sich Grugger zwar in "absolut stabilem Zustand", der 29-Jährige liegt aber weiterhin im künstlichen Koma auf der neurochirurgischen Intensivstation der Innsbrucker Klinik.

Einige, stellt Miller fest, "waren heute vorsichtiger als sonst", auch er habe es "als große Herausforderung" empfunden, hier zu starten. Kitzbühel ist das natürlich immer: eine große Herausforderung, das ist ja das Verkaufsargument, ein Grund, weshalb sich das Hahnenkammrennen als einziges Skirennen in Österreich selbst vermarktet und hier insgesamt 550.000 Euro Preisgeld ausgeschüttet werden, mehr als überall sonst im Skizirkus. Der Sturz von Hans Grugger aber hat zumindest für eine gewisse Nachdenklichkeit gesorgt - die am Renntag dann vom Italiener Siegmar Klotz noch verstärkt wurde.

Klotz, Startnummer 33, hob beim Sprung an der Traverse rücklings ab, er ruderte in der Luft mit den Armen, schließlich landete er auf dem Rücken und prallte mit voller Wucht in die Fangnetze. Kurz darauf startete der Hubschrauber, das Rennen wurde unterbrochen. Schlimmste Befürchtungen aber bestätigten sich zunächst nicht: Klotz war ansprechbar, eine Untersuchung im Krankenhaus St. Johann ergab, dass er sich einen unkomplizierten Bruch im linken Handgelenk, Prellungen am ganzen Körper und eine leichte Gehirnerschütterung zugezogen habe. Die Nacht über muss er im Spital bleiben.

Für Sander und die anderen Fahrer, die nach Klotz im Starthaus standen, machte es das nicht einfacher, ein heftiger Sturz, die Wartezeit. Er habe den Sturz nicht gesehen, sagte Sander, und außerdem: "So etwas muss man verdrängen, andernfalls müsste man zurückziehen, und das tut keiner." Das Warten? Kein Problem, sagt Sander, "man kann sich drinnen aufwärmen". Sie haben hier etwas mehr Komfort im Startraum als anderswo, hier ist schließlich Kitzbühel.

Und eben deshalb, weil Kitzbühel Kitzbühel ist, hält die Nachdenklichkeit auch nicht so lange an, dass sie die Stimmung nachhaltig beeinflussen könnte. Ob er morgen den Slalom fahre, wurde Bode Miller noch gefragt, bevor er ging, von der Straße drang immer wieder ein Schwall Stimmungsbeat in den Raum, wenn jemand die Tür öffnete. Miller grinste, dann antwortete er: "Das hängt davon ab, wie die Nacht verläuft."

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