TischtennisDer Sohn der Stadt gibt auf

Lesezeit: 5 Min.

Seine letzte deutsche Meisterschaft: Kilian Ort vor zwei Jahren im Einzel-Viertelfinale in Nürnberg.
Seine letzte deutsche Meisterschaft: Kilian Ort vor zwei Jahren im Einzel-Viertelfinale in Nürnberg. (Foto: Patrick Wichmann/Imago)

Kilian Ort vom TSV Bad Königshofen war auf dem Weg an die Weltspitze, doch seine Tischtenniskarriere bleibt unvollendet: Mit 28 zwingt ihn der Körper zum Aufhören. Er hinterlässt einen florierenden Erstliga-Standort, den es allein seinetwegen gibt.

Von Andreas Liebmann

Nie hat einer behauptet, dass jedem Ende ein Zauber innewohnt. Im Fall von Kilian Ort war das Ende sogar besonders schmucklos: Ljubljana, Qualifikation für ein Tischtennis-Weltcupturnier, Samuel Kulczycki, ein junger Pole, schlägt zum Matchgewinn auf; Ort umläuft seine Vorhand und flippt den Return ins Aus. Handtuch aufsammeln. Shakehands vor leeren Rängen. Das war’s.

Vielleicht hätte sich Ort etwas anderes überlegt, wenn er damals gewusst hätte, dass dies sein letzter Schlag als Tischtennisprofi sein würde, höchstwahrscheinlich hätte er zumindest einen anderen Rahmen dafür gewählt; ein Mannschaftsspiel, weil ihm das immer wichtiger war als die Einzelturniere. Doch er ahnte es nicht. Erst jetzt, gut anderthalb Jahre später, weiß er es. Am vergangenen Mittwoch hat Kilian Ort seine Karriere offiziell für beendet erklärt. Mit 28, mehr als 20 Jahre nachdem ihm sein Vater Josef daheim im unterfränkischen Bad Königshofen die ersten Schläge beibrachte. Es war der Abschluss einer Laufbahn, die immer zwischen zwei Genres pendelte: zwischen Märchen und Drama.

Die Eckdaten: In der Weltrangliste stand Ort mal auf Rang 48. In der Tischtennis-Bundesliga besiegte er Timo Boll, Dang Qiu, Patrick Franziska, eigentlich alle deutschen Nationalspieler, die dort aktiv waren. Er war deutscher Jugendmeister und stand im Männerfinale. Zahl seiner Länderspiele: eins. Zahl internationaler Großereignisse: null. Zahl der Verletzungen: dazu später. „Ich hab’ ein Länderspiel mehr als die meisten anderen“, tröstet er sich am Telefon und lacht. Aber auch: „Ich denke, dass ich Fähigkeiten für mehr hatte.“

Seine letzten beiden Bundesliga-Einzel hat Kilian Ort gewonnen, im April 2023 gegen Mühlhausen. Da hat er noch mal die Arme hoch- und die Leute aus den Sitzen gerissen. Doch er hatte schon mit Bandscheibenproblemen zu kämpfen. Als die Spritzen nicht mehr halfen, rieten ihm mehrere Ärzte zur Operation. Als klar war, dass der Eingriff nichts bewirkt hatte, folgte ein zweiter. Die Schmerzen blieben. Sie begleiten ihn nun durch den Alltag. „Natürlich habe ich mich mit meinem Sport identifiziert“, sagt er. Aber an Sport ist aktuell nicht zu denken.

„Er war immer auf dem Sprung an die Topspitze“, sagt Bundestrainer Roßkopf

Der Standort Bad Königshofen, wie man ihn heute kennt, wäre ohne Kilian Ort nicht denkbar. Vermutlich hätte es aber auch den Profi Kilian Ort nie ohne diesen Standort gegeben, ohne die Kleinstadt im Kreis Rhön-Grabfeld und deren Bewohner. Sie sind gemeinsam gewachsen. Das Talent des Jungen zeigte sich früh. Als er zwölf war, spielte er erstmals mit dem Vater gemeinsam in der ersten Mannschaft, Landesliga. Sie wurden Meister und stiegen auf: zwei Jahre Bayernliga, dann Oberliga, Regionalliga, zweite Liga. Als er 15 war, wollte ihn der Bayerische Tischtennis-Verband (BTTV) nach Oberbayern locken, ans Internat. Der Deutsche Tischtennis-Bund riet ihm, nach Düsseldorf zu ziehen, wo ihm die Borussia anbot, ihn „unter ihre Fittiche zu nehmen“, wie Ort sagt; der Branchenprimus um Timo Boll also. Aber: „Ich wollte nicht weg von daheim.“

Im VIP-Bereich eines Bundesligaspiels in Bad Königshofen kommt man schnell ins Plaudern. Dort scharen sich Sponsoren und lokale Politprominenz um ein paar Stehtische, man bekommt als Münchner Journalist ein bisschen Anerkennung dafür, dreieinhalb Fahrstunden investiert zu haben, um aus der fränkischen Provinz zu berichten. Und im selben Atemzug den Hinweis, dass übrigens München für die Leute hier auch nicht leichter zu erreichen sei.

Eine Szene aus der Anfangszeit in der TTBL, und es schadet ihr nicht, dass dazu Biergläser mit Wildschweinmotiv auf den Tischen standen und an Asterix erinnerten. Denn sie haben dann eben ihr eigenes Ding aufgezogen, um den Sohn der Stadt zu fördern (anfangs noch mit Christoph Schüller, dem zweiten Eigengewächs) und ihm die erste Liga daheim zu ermöglichen. Unternehmer, Handwerker, Wirtsleute, Mitspieler, alle packten an, spendeten, bauten, organisierten. Wie das gallische Dorf versammelten sie sich um Orts Team. Wahrscheinlich ist die Euphorie seit dem Aufstieg 2017 auch deshalb so groß. Vom BTTV half der für die Region zuständige Verbandstrainer Cornel Borsos, sonst ließ sich aus München selten einer blicken. Orts wichtigster Ratgeber blieb sein Vater Josef, die Sparringspartner organisierte der TSV. „Das dürfte es nicht oft geben“, sagt Ort im Rückblick, „dass einer mit einem Verein, den vorher niemand kannte, so weit nach oben kommt, und das nur aus ehrenamtlichen Strukturen heraus.“

Anfangs machte es ihm zu schaffen, dass sich so vieles nur um ihn drehte. Teammanager Andreas Albert hat das mal mit dem Satz erklärt: „Kilian weiß ja, dass wir alles seinetwegen machen.“ Alles stehe und falle mit ihm. Schon im ersten TTBL-Jahr gewann Ort Spiele, aber es dauerte bis zur Rückrunde der zweiten Saison, ehe ihm das daheim gelang. „Irgendwann bin ich verzweifelt und dachte: Das gibt’s nicht, du gewinnst überall, nur nicht in deinem Wohnzimmer“, erinnert er sich. Es sei eben sehr speziell, dass so viele nur seinetwegen kamen. „Und wenn dann der Nachbar noch was reinruft, um dir zu helfen …“ Später trug ihn diese Atmosphäre.

In Bad Königshofen hat sich herausgestellt, dass die Leute auch ohne ihren Kilian dabeibleiben

Ort zog irgendwann doch nach Düsseldorf, wo er mit seiner Freundin lebt, einer Zweitligaspielerin. Er ging zur Bundeswehr. Hat nun ein Studium begonnen. Seine sportlichen Fortschritte wechselten sich mit Verletzungen ab. Schmerzen in der Schulter kosteten ihn ein ganzes Jahr, zwischen 2015 und 2016; Schmerzen im Fuß behinderten ihn in der Zeit vor dem ersten Bandscheibenvorfall. Ursache jeweils: unklar. Es war wohl seine Verletzungsanfälligkeit, die den Bundestrainer Jörg Roßkopf davon abhielt, Ort zu nominieren, auch als er stark genug gewesen wäre für eine EM oder WM. „Er war immer auf dem Sprung an die Topspitze“, sagt Roßkopf, „ein toller Wettkämpfer ohne Respekt vor engen Spielständen oder starken Gegnern.“ Eine ähnliche Kategorie wie Dang Qiu, der Europameister von München, sei er gewesen, „sogar einen Tick besser – und Dang ist jetzt Top-Ten-Spieler“. Immer wieder habe sich Ort zurückgekämpft und auch diesmal alles probiert. Umso bitterer sei es, dass ihm kein Comeback mehr möglich war. „Für ihn ist es vielleicht eine Erleichterung, dass es jetzt ausgesprochen ist. Er ist so clever, dass ihm alle Türen offenstehen, egal wo.“

In Bad Königshofen hat sich in eineinhalb Jahren vergeblichen Bangens herausgestellt, dass die Leute auch ohne ihren Kilian dabeibleiben. Das aktuelle Team liegt auf Playoff-Kurs, der Kader für nächste Saison steht, die Halle ist laut und voll. Und auch ihr eigenes Ding machen sie weiter: Koharu Itagaki, die Nummer zwei in der Mädchen-Weltrangliste der Unter-15-Jährigen, wird hier im Ort ausgebildet. Der Unterschied zu den Anfangszeiten ist, dass es in ihrem Vater Koji inzwischen einen hauptamtlichen Trainer gibt.

In seinem zweiten TTBL-Jahr gelang Kilian Ort ein bemerkenswerter Sieg gegen den Österreicher Daniel Habesohn: 3:2 für das junge Talent gegen den renommierten Routinier. Nun ist das Talent in Rente – und der Routinier wird im Sommer nach Bad Königshofen wechseln, mit 39. Kilian Ort selbst klingt gefasst. Er habe eineinhalb Jahre Zeit gehabt, sich mit der Situation vertraut zu machen, sagt er. Es ist ausnahmsweise mehr als eine Höflichkeitsfloskel, wenn er sich zum Abschied bei der „Riesenzahl von ehrenamtlichen Helfern“ bedankt. Er kennt sie eben alle.

© SZ - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Tischtennis
:Spontane Verabredung mit einem Europameister

Der Tischtennis-Erstligist TSV Bad Königshofen hatte ganz andere Pläne, aber eine kurze Nachricht genügte, um diese über den Haufen zu werfen. Er hat den Österreicher Daniel Habesohn verpflichtet – obwohl der zuletzt kaum etwas gewonnen hat.

Von Andreas Liebmann

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: