Dem guten Mann blieb nichts erspart. Da hatte Marcel Rapp an diesem denkwürdigen Samstagnachmittag schon ein irres Laufpensum abgespult, hatte seine streckenweise desorientierten Spieler immer wieder gestisch in die richtigen Bahnen zu lenken versucht. Und nun auch noch das: In der zweiten Minute der Nachspielzeit musste der Kieler Trainer höchstselbst bis zur Eckfahne rennen, von wo aus er Freiburgs demonstrativ gemächlichem Keeper Noah Atubolo den Ball zur Weiterverarbeitung zuwarf. Die Zeit drängte, denn kurz zuvor hatte Kiels Phil Harres (85./90.) aus einem aussichtslosen 0:3-Rückstand ein 2:3 gemacht. Und wenn der ungelernte Balljunge Rapp später bei der Pressekonferenz feststellen sollte, dass „vielleicht nach hinten raus nur ein paar Minuten“ gefehlt hätten, um diese an sich einseitige Partie noch zu drehen, hatte er recht.
Denn fast hätte der SC Freiburg in den letzten Minuten der Partie wirklich noch einen vermeintlich sicheren Sieg aus der Hand gegeben. Wie bereits beim 3:2 im Heimspiel zuvor gegen Wolfsburg, als Freiburg auch beinahe noch eine 3:0-Führung verdaddelt hätte. Nicht nur Atubolo, der zweimal gut hielt und in wirklich letzter Sekunde gegen Fiete Arp rettete, aber zumindest das 2:3 auf dem Gewissen hatte, fand nach dem Spiel, dass „so etwas eigentlich nicht passieren darf“.
Derweil hatte Kiels Timo Becker nach dem Spiel ein Déjà-vu mit deutlich mehr Wiederauflagen. Eigentlich hatten er und seine Kollegen ja wieder ganz passabel angefangen, und doch lagen sie zur Halbzeit schon wieder 0:2 zurück. Weil Nicolai Remberg eine Hereingabe von Eren Dinkci ins eigene Tor abgefälscht (23.) und Freiburgs Ur-Linksverteidiger Christian Günter einen Freistoß ziemlich spektakulär direkt verwandelt hatte (38.). „Und dann steht man schon wieder bei einem Auswärtsspiel und denkt sich, was ist hier nur los?“, referierte Kiels wackerer Abwehrmann.
Letztlich sei das Spiel, so unglücklich es gelaufen sei, „aber scheißegal“, sagte Becker. Weil das nächste Spiel eben schon wieder eins sein wird, in dem der Überraschungsaufsteiger einen sehr schweren Stein einen sehr hohen Berg hinaufrollen muss. Und weil es dann eben gegen Borussia Dortmund geht. Und diese Konstellation ist für den Herzens-Schalker Becker, der fußballerisch wie Manuel Neuer in Gelsenkirchen-Buer aufwuchs, nun mal doch eine ganz spezielle Angelegenheit, mithin ein „persönliches Derby“.
Falls die Dortmunder diese auch ein wenig pflichtschuldig getätigte Kampfansage erschreckend finden, hat das allerdings wohl eher mit dem Krankenstand und den unzähligen anderen Problemen im eigenen Lager zu tun als mit der Leistungsstärke der Kieler. Für die sprachen am Samstag die letzten zehn Spielminuten – und die Dickköpfigkeit, trotz der 80 Minuten zuvor noch mal ziemlich wütend eine Aufholjagd zu erzwingen. Man sagt es deshalb nicht gerne, aber im Vergleich zu ähnlich limitierten Bochumern, denen gerade immerhin Feuerzeuge helfen, oder Heidenheimern, die sich im Winter gut verstärkt zu haben scheinen, haben die Holsteiner kein überragendes Blatt in der Hand.
Wobei: Vom Niveau her waren am Samstag zuweilen beide Teams näher beieinander, als es das Ergebnis nahelegt. Freiburg leistete sich neben der vogelwilden Schlussphase schon in der ersten Viertelstunde drei schlimme Ballverluste in der eigenen Hälfte, die jeweils zu Kieler Chancen führten. Dazwischen war viel Ballbesitz, viel Spielkontrolle, vieles, was Trainer Julian Schuster als Lernerfolg („Dinge, die wir sehen wollten“) lobte. Sonderlich inspiriert waren die Angriffsbemühungen allerdings nicht.
Freiburgs oft aufgesetzt wirkendes Understatement ist einfach eine realistische Arbeitsgrundlage
Wäre das Spiel nach 85 Minuten beim Stande von 3:0 abgepfiffen worden, hätte man deshalb von einem etwas zähen, eher nicht ganz so kurzweiligen Nachmittag gesprochen. So weckte zumindest die Schlussphase das Publikum noch mal auf, das den Nachmittag bis dahin ungewöhnlich leise verbracht hatte.
Den geringen Unterhaltungsfaktor dürfte man der Freiburger Elf allerdings wohl nur dann vorwerfen, wenn irgendjemand im Südbadischen auf die Idee käme, große Töne zu spucken. Doch davon sind auch die Post-Streich-Freiburger weit entfernt. Wenn auch Schuster in guter alter Demutshaltung vor jedem Spiel und bei jedem Gegner betont, dass man „maximal gewarnt“ sein müsse, mag das kokett wirken. Doch das ist es nur am Rande. Vor allem wissen sie in Freiburg seit jeher, dass man nur dann tief fällt, wenn irgendjemand einen vorher auf ein Podest gestellt hat. Das außerhalb von Freiburg oft aufgesetzt wirkende Understatement ist insofern einfach eine realistische Arbeitsgrundlage. Zwar hat der Umsatz der Freiburger mit dem von Holstein Kiel so viel zu tun wie der von RB Leipzig mit dem des VfL Bochum. Doch mit den Kennzahlen von Dortmund, Wolfsburg oder Gladbach kann man eben auch noch lange nicht mithalten – und die liegen in der Tabelle allesamt hinter dem Sportclub. Insofern fasste SC-Mittelfeldmann Maximilian Eggestein den Arbeitstag ebenso minimalistisch wie zutreffend zusammen: „Es war ein gelungener Start ins neue Jahr, weil wir gewonnen haben.“