Das Leben von Kevin-Prince Boateng besteht - von außen betrachtet - aus zwei Extremen. Entweder er ist der Rüpel, der Bösewicht der Nation. Oder Boateng ist der Held.
Aktuell ist der 26-Jährige der Held. Im Nadelstreifen-Anzug und mit Krawatte um den Hals spricht Boateng vor den Vereinten Nationen, zurechtgemacht wie es ihm der Alltag sonst nicht abverlangt. "Rassismus und Sport" ist der Titel der Debatte, für die Boateng in den Flieger nach Genf gestiegen ist. Am 3. Januar 2013 hatte Boateng als erster Fußballer wegen rassistischer Fangesänge das Spielfeld verlassen und einen Spielabbruch provoziert, weil ihm seine Kollegen vom AC Mailand gefolgt waren.
Am heutigen Donnerstag sagte Boateng in Genf: "Rassismus muss aktiv bekämpft werden, er verschwindet nicht von selbst. Als ich in der Nationalmannschaft Ghanas spielte, habe ich gelernt, Malaria zu bekämpfen. Impfungen genügen nicht. Man muss die Teiche trocken legen, in denen die Malaria-Mücken gedeihen. Ich denke, dass Malaria und Rassismus vieles gemeinsam haben".
Kevin-Prince Boateng ist plötzlich Vorkämpfer gegen Rassismus. Das selbst ernannte Ghetto-Kid aus Berlin-Wedding, Sohn einer deutschen Mutter und eines ghanaischen Vaters, dessen Leben in der Öffentlichkeit nicht unbedingt das Prädikat "vorbildhaft" anhaftet. Der einmal in Berlin mit einem Kumpel nachts 13 Fahrzeuge beschädigt haben soll und dafür 56.000 Euro Strafe zahlte. Und wegen dem es im Jahr 2010 einmal einen Brennpunkt in der ARD gab.
Im Spiel gegen den FC Chelsea sorgte Boateng, damals in Diensten vom FC Portsmouth, mit einem rüden Foul für das WM-Aus von Michael Ballack. Ein Schock für Deutschlands Fußballfans, die in Boateng den neuen Buhmann der Nation gefunden hatten. Ein kollektiver Aufschrei gegen den brutalen und rüpelhaften Halbbruder von Jérôme Boateng ging durch das Land.
Doch in Genf spricht kein Buhmann. "Zu glauben, man könnte den Rassismus besiegen, indem man ihn ignoriert, ist der größte Fehler, den wir machen können. Er ist wie eine Krankheit, gegen die es keine Antibiotika gibt. Man muss in den Sumpf gehen und dagegen ankämpfen."
Den Sumpf hatte er Anfang Januar betreten. Der AC Mailand absolvierte ein Testspiel gegen den Viertligisten Pro Patria, als eine Gruppe gegnerischer Fans wiederholt Affenlaute von sich gab. In der 26. Minute reichte es Boateng: Er schoss den Ball Richtung Tribüne, zog sich wetternd das Trikot über den Kopf und verließ das Feld. Seine Teamkollegen folgten ihm, das Spiel wurde abgebrochen.
Das war nun kein Thema für den ARD-Brennpunkt, erhielt aber dennoch weltweite Aufmerksamkeit. CNN interviewte den Mittelfeldspieler, die italienische Sportzeitung Gazetta dello Sport titelte: "Wir sind alle Boateng". Ausgerechnet Fifa-Präsident Josef Blatter empörte mit einer Bemerkung: Ein Fußballer könne nicht einfach vom Feld gehen, sonst würden das Spieler auch bei einer drohenden Niederlage tun, sagte Blatter.
Später ruderte er zurück: Rassismus dürfe nicht toleriert werden, Boatengs Auftritt sei couragiert gewesen. Dann lud Blatter Boateng zu einem Gespräch über mögliche Maßnahmen im Kampf gegen Rassismus in die Fifa-Zentrale nach Zürich ein. Der Weltverband gründete eine Anti-Diskriminierungs-Task-Force.
Dabei zeigt ein Fall aus einer deutschen Bezirksliga, dass Rassismus nicht nur auf italienischen Fußballplätzen zum Alltag gehört.
In der Bezirksliga Niederrhein wurde der nigerianische Torwart Ikenna Onukogu von SC Hertha Hamborn Anfang März in einer Begegnung gegen Dostlukspor Bottrop mit Affenlauten und rassistischen Schimpfwörtern beleidigt. Mehrmals machte der 27-Jährige den Schiedsrichter auf die Pöbeleien hinter seinem Tor aufmerksam. Als Onukogu mit einer Flasche beworfen wurde, hatte er genug: Er warf zurück, es kam zum Tumult und Handgreiflichkeiten, die Partie wurde abgebrochen. Die Konsequenz: Der Niederrheinische Fußballverband sperrte vorerst den Torwart. Eine Verhandlung soll folgen.
Im Prozess gegen die Fans des italienischen Viertligisten sagte Boateng: "Ich denke, sie haben mich beschimpft, weil meine Haut nicht weiß ist. Das ist mir auch schon in Deutschland passiert, für mich ist das ganz klar Rassismus."