Wimbledon:Kerbers Schrei hallt über London

Wimbledon 2018

Mit den Mitteln des Kampfes: Angelique Kerber nach dem knapp gewonnenen Match gegen die Nummer 237 der Welt.

(Foto: John Walton/dpa)
  • Angelique Kerber quält sich gegen die 18-jährige Qualifikantin Claire Liu in die dritte Runde.
  • Wieder ist es ihr Kampfgeist, der sie rettet - gegen die Japanerin Naomi Osaka muss sie sich deutlich steigern.
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Von Gerald Kleffmann, Wimbledon

Hoffentlich hatte sich am Donnerstag niemand in der Innenstadt Londons Sorgen gemacht. Von weit her, im Süden der Stadt, im Viertel mit dem Postcode SW 19, war ein Schrei bis über die Themse hinübergehallt, der nichts Gutes vermuten ließ. Es war Angelique Kerbers Schrei. Manchmal erschrickt man regelrecht, zu welchen Ausbrüchen die Deutsche imstande ist, sie hat viel mehr Temperament in sich, als man ahnt. Sie ist im Alltag ansonsten ein umgänglicher Mensch.

Außer es läuft sportlich nicht. Dann können Gewitter aufziehen. Dann ist Kerber so genießbar wie umgeschlagene Milch. Sie zeigt dann allerlei Gefühlswallungen, "ich bin ein emotionaler Mensch", sagte sie auch am Donnerstag. Sie hadert dann, flucht, klagt, pusht sich, ballt die Hand zur Faust, blickt verzweifelnd zu ihrer Box. So war es auch in ihrem Zweitrundenmatch, immer wieder. "Das war spielerisch nicht das, was wir erwartet haben", bekannte Wim Fissette, Kerbers Trainer aus Belgien, der viel Erfahrung hat, der Kim Clijsters einst zu Grand-Slam-Titeln geführt hatte und einzuschätzen weiß, wie eine Leistung auf dem Platz wirklich war: "Gut spielen kann man nicht immer, kämpfen schon. Das hat sie getan." Immerhin das.

Es ist also noch mal gut gegangen für Kerber. Aber dieser mühsame 3:6, 6:2, 6:4-Erfolg in Wimbledon gegen die erst 18-jährige Amerikanerin Claire Liu, die 2017 das Wimbledon-Turnier der Juniorinnen gewonnen hatte und nun über die Qualifikation ins Hauptfeld gelangt war, war sogar noch enger, als es das knappe Ergebnis vermuten lässt. Kerbers Schrei zeugte davon, welch intensiven inneren Druck sie zu bewältigen hatte. Wie nah sie sich dem Aus wähnte. Letztlich hatte sie diese Partie nicht deshalb gewonnen, weil sie besser geworden war. Liu hatte eher abgebaut.

"Ich habe nie richtig frei gespielt", räumte Kerber ein, was sich auf dem Platz bei einem ihrer Klagelieder so angehört hatte: "Es geht nichts, nichts, nichts!" Nun lässt sich trefflich darüber diskutieren, ob ihre oft etwas schnell negativ werdende Körpersprache hinderlich oder förderlich ist, das eigene Lager ist offenbar selbst gespalten diesbezüglich. Fissette hat einmal gemeint, sie müsse sich in diesem Aspekt verbessern, Kerber befand am Donnerstag allerdings ebenso nachvollziehbar, dass Vulkanausbrüche ihr helfen, zurück ins Match zu finden. Wie gegen Liu.

Kerbers nächste Aufgabe ist knifflig

Dieser Erfolg gegen die mutig aufspielende Kalifornierin aus Thousand Oaks war einerseits keiner, an dem sich Kerber erbauen kann, zurecht sagte sie, es werde keine große Analyse dazu geben. Weiter ist weiter. Andererseits: Mehr muss sie schon zeigen, will sie noch weiter kommen. Bislang ist es für sie zweifellos ein Jahr der Konsolidierung auf hohem Niveau, Kerber hat sich nach einem hindernisreicheren Jahr 2017 wieder stabilisiert und gute Ergebnisse erzielt. Der Wechsel hin zu Fissette war der richtige, diese Entscheidung hat sie auch im Nachhinein beruhigt. Das Gefühl, erst zu lange in einer Krise mit einer Gegenmaßnahme zu warten, um dann eine falsche Entscheidung zu treffen, ist für keinen Profisportler angenehm. In Kerbers Fall ist es gutgegangen. Sie nähert sich den Top Ten wieder, als frühere Nummer eins und langjähriges Mitglied des elitärsten Zirkels im Tennis muss es auch ihr Anspruch sein, wieder in diese Region vorzustoßen. In ihrem Team wissen sie aber auch, dass die absolut positiven Ausschläge fehlen. Es müssen nicht gleich Grand-Slam-Triumphe wie 2016 sein, als sie erstmals eines der vier größten Turniere gewonnen hatte, die Australian Open; im Spätsommer war ihr gar noch ein zweiter Coup geglückt, bei den US Open in New York. Aber ein Halbfinale oder Finale, wie 2016 in Wimbledon, sollte wieder herausspringen. Das ist das erhoffte Ziel. Es wird nur nicht offensiv nach außen dargestellt.

Kerbers nächste Aufgabe indes ist knifflig, sie trifft am Samstag auf Naomi Osaka, eine der interessantesten Persönlichkeiten im Frauentennis. Die 20-Jährige, deren Vater aus Haiti stammt und die Mutter aus Japan, lockt regelmäßig eher viele als wenige Reporter zu ihren Pressekonferenzen an, weil sie oft witzige und ulkige, aber auch ehrliche und schonungslos selbstkritische Dinge äußert. Und weil sie auch sehr speziell spricht - sehr langsam, oft mit Pausen und einem ungewöhnlichen Singsang -, bringt sie eine erfrischende Note in die oft routinemäßigen Abläufe eines Tennisturniers abseits der Matches. Osakas Spiel wiederum ist völlig entgegengesetzt zu ihrer manchmal etwas zeitverzögerten Rhetorik, sie entwickelt höchstes Tempo und Aggressivität in ihren Schlägen, das oft genug die Besten in Not bringt, Kerber weiß das aus eigener Erfahrung.

2017 in Runde eins der US Open verlor sie gegen Osaka, in der ersten Runde, die Niederlage bewirkte damals die Zäsur; Torben Beltz musste gehen. "Das Match von New York habe ich natürlich noch im Kopf, aber das waren ganz andere Umstände", sagte Kerber, "jetzt ist 2018." Eine trotzige Kerber war oft auch eine erfolgreiche Kerber. Das sollten auch die Bewohner Londons wissen, die den Schrei gehört hatten.

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