Karriereende von Philipp Lahm:In einer Liga mit den Allerbesten

Philipp Lahm war einer der besten deutschen Fußballer der Geschichte - weil er immer einen Plan verfolgte. Eine Würdigung zum Karriereende.

Von Thomas Hummel

Das nächste Spiel wartet bereits im Leben des Philipp Lahm. Er wird wie immer perfekt vorbereitet sein, einen Matchplan erstellen, die Laufwege optimal abstimmen, nichts bleibt unbedacht, es soll schließlich ein Sieg werden. "Am Montag werde ich um 7 Uhr von meinem Sohn Julian geweckt, später geht es Richtung Kindergarten. Ich werde anschließend zur Säbener Straße fahren und meinen Spind räumen." Ach ja, zudem hat die Mama Daniela Geburtstag, "dann steht die nächste Feier an".

Wer verstehen will, wie aus Philipp Lahm aus dem Münchner Stadtteil Gern gegen fast alle Prognosen einer der besten deutschen Fußballer der Geschichte werden konnte, der muss nicht viel mehr wissen. Die erste Lebenswoche als Nicht-Fußballer - und alles ist wohlüberlegt durchorganisiert. Der ganze Mann ein Plan für ein Ziel: Erfolg. Doch anders ging es wohl nicht.

Als Philipp Lahm hineinwuchs in das deutsche Fußballgeschäft, da regierten dort die Testosteron-Bomben. Sie schrien auf dem Platz die eigenen Mitspieler zusammen, schubsten sie herum und grätschten sie im Training im Kampf um den Stammplatz nieder. Bevorzugte Spielweise war das Rumpeln, der Ball war zumeist hoch in der Luft. Was sollte diese Gesellschaft anfangen mit einem Mann von 1,70 Meter, der aussah, als käme er gerade von der Firmung? Als ihn Trainer Ottmar Hitzfeld im November 2002 gegen den RC Lens erstmals einwechselte, recherchierten einige im Regelwerk der Uefa, seit wann Kinder in der Champions League mitspielen dürfen. Das Trikot flatterte um Lahms Körper herum, als hätte er das Hemd seines viel größeren Bruders anziehen müssen.

Nichts überlässt Lahm dem Zufall

Der FC Bayern traute diesem 19-Jährigen noch nicht über den Weg, und auch sonst wollte ihn niemand aufnehmen. Zeitzeuge Hermann Gerland berichtet noch heute genüsslich, wie viele Bundesliga-Trainer abwinkten, als er ihnen den Buben aus Gern für ein Leihgeschäft anbot. Felix Magath, damals Trainer des VfB Stuttgart, erbarmte sich schließlich.

13 Jahre später wird der große Trainer Pep Guardiola kurz vor seinem Abschied beim FC Bayern gefragt, wie wichtig dieser Philipp Lahm für seine Mannschaft sei. Es ist ein fast melodramatischer Moment. Guardiola, der gerne strategisch seine Spieler lobt, um sie selbstbewusster und besser zu machen und sie vor öffentlicher Kritik zu schützen, will nun seine ehrliche Ehrfurcht ausdrücken. "Die Leute können nicht verstehen", setzt er an, atmet, "wie glücklich Pep war, Philipp Lahm als Fußballer zu haben." Die Prognose ist nicht sehr gewagt, dass der FC Bayern bald mit ähnlich sehnsüchtiger Miene zurückblicken wird: 'Mei, wie schön war es, als Philipp Lahm noch dabei war.' Denn einen wie ihn müssen sie in München erst wieder finden.

Philipp Lahm tritt an diesem Wochenende ab. Mit einem Spiel gegen den SC Freiburg. Ob das ein würdiger Rahmen ist, das spielt keine Rolle. Er hat beschlossen, nach dieser Saison aufzuhören und damit basta. Er lässt sich schon lange nicht mehr von anderen und schon gar nicht von den Wünschen der Öffentlichkeit in sein Leben reinreden.

Er tritt ab als Weltmeister, Champions-League-Sieger, achtmaliger Deutscher Meister, sechsmaliger Pokalsieger und noch einigem Pipapo. Das ist ganz schön viel. Dennoch wabert das Gefühl umher, es hätte noch mehr sein müssen. Noch ein, zwei Champions-League-Siege zum Beispiel, und so manch eine Niederlage mit der Nationalmannschaft im Halbfinale eines großen Turniers hätte auch nicht sein müssen. Dieses Gefühl ist natürlich ungerecht. Auch wenn es Philipp Lahm selbst ist, der es hier und da ausspricht.

Er ist nun 33 Jahre alt und durchaus ein Repräsentant seiner Generation. Es ist seine Art von selbstoptimiertem Karrierebewusstsein, die heutzutage oft zu finden ist. Nicht nur im Fußball. Nichts wird dem Zufall überlassen, Körper und Geist wird alles abverlangt. Nutze den Tag. Beim Stand von 3:0 schonte er sich schon auf dem Platz für das nächste Spiel. Bei Rückstand riss er bisweilen seine ganze Mannschaft mit nach vorne. Alles wohl kalkuliert.

Neben Lahm konnten alle anderen besser werden

Für die Massen machte ihn das unnahbar, es fehlte die Wärme, das Gefühl. Die Menschen in der Kurve riefen ihn nie einen "Fußballgott" und schon gar nicht "den besten Mann". Dazu fehlte ihm die Wildheit eines Ribéry, die Geselligkeit eines Schweinsteigers oder der Bauch eines Hoeneß'. Manche nannten ihn eher Streber oder Klassensprecher, worin immer einiges Gift lag. Wer will schon gerne der Freund des Strebers sein? Philipp Lahm wusste das. Und entweder wollte er nicht anders oder er konnte nicht. Er ist eben so. Zum Abschied sagt er nun: "Ich hoffe, dass mich die Fans als einen guten Fußballspieler in Erinnerung behalten. Nicht mehr und nicht weniger, genau das war ich eigentlich, würde ich von mir behaupten."

Er rasierte sich nie die Haare ab, trug nie einen Brilli im Ohr, von einer Tätowierung ist nichts bekannt. Er zog seine Anerkennung aus Leistung und Erfolg, das musste reichen. In seinem Fall reichte das dicke. Nach dem WM-Spiel 2006 gegen Polen schrieb die Süddeutsche Zeitung: "Lahm schien die gesamte Fußballkunst in den Genen zu haben, zwei gleichstarke Füße und bei jeder Aktion einen Plan B im Kopf. Wann hatte Deutschland zuletzt einen solch wunderbaren Spieler?"

Lahm spielte in punkto Ball-An- und Mitnahme in einer Liga mit Xavi und Andres Iniesta, mit den Allerbesten. Im größten Durcheinander verlor er fast nie die Kugel, eine Drehung, ein Sprint, ein Pass - Problem gelöst. Kaum einer versteht so gut wie er, was auf dem Spielfeld als nächstes passieren wird. Neben ihm konnten alle anderen besser werden, denn ihr Philipp brachte sie nie mit einem missratenen Zuspiel in Bedrängnis. Dazu gab er ihnen die Sicherheit, ihre Fehler auszubügeln, weshalb sie Dinge machen konnten, die sonst viel zu riskant gewesen wären.

Philipp Lahm war nie Weltfußballer, nicht einmal Deutschlands Fußballer des Jahres. Einmal wurde er national Zweiter, hinter Ailton. Muss man mehr über solche Wahlen wissen?

Der Bub aus München-Gern ist bald Fußball-Rentner. Für viele Profis ist das ein einschneidendes Erlebnis, manche kommen damit schwerlich klar. Philipp Lahm sagt: "Erst einmal mache ich mit meiner Familie Urlaub und lebe frei in den Tag hinein. Doch ich werde mir einen Tag setzen und den für mich als Startschuss in mein neues Leben definieren." Der ganze Mann ein Plan für ein Ziel: Erfolg. Und niemand sollte ihn unterschätzen.

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