Süddeutsche Zeitung

Karate:Kurzbesuch der Kampfsportler

Die Karate-Pioniere müssen schon wieder Abschied nehmen von Olympia. In Paris 2024 sind sie nicht mehr dabei. Für die Planungssicherheit der Verbände ist das wenig vorteilhaft - ebenso wenig für das Selbstverständnis der Athleten.

Von Thomas Hahn, Tokio

Sajad Ganjzadeh aus Iran kann sich an den Moment, als er Karate-Olympiasieger wurde, nicht mehr erinnern. Vielleicht ist das aber auch ganz gut so, denn schön sah es nicht aus, als Tareg Hamedi aus Saudi Arabien ihn im Finale der Disziplin Kumite, Gewichtsklasse 75 Kilo plus, mit einem Fußtritt am Kopf erwischte. Sajad Ganjzadeh fiel und blieb bewusstlos liegen. Sanitäter eilten herbei. Tareg Hamedi wartete am Rand der Tatami. Auf der Tribüne des fast leeren Nippon Budokan in Tokio winkten ein paar Leute aus der saudischen Olympiadelegation schon begeistert mit der grünen Fahne ihres Landes. Die Trage wurde gebracht und der Iraner aus der Halle getragen. Tareg Hamedi stand allein auf der Matte, als der Schiedsrichter sein Urteil bekannt gab. Disqualifikation wegen übertriebener Härte. Hamedi weinte, seine 4:1-Führung war nichts mehr wert.

Später berichtete Sajad Ganjzadeh: "Ich bin im Medizinraum aufgewacht und habe von meinem Coach gehört, dass ich gewonnen habe."

Der letzte Tag der Olympia-Premiere von Tokio hätte besser laufen können für die Elite der Sportart Karate. Ganjzadehs K.o. war verstörend. Man war froh, als er aufrecht zur Siegerehrung erschien und außer einem Brummschädel nur noch beklagte, dass er sich für das Finale einen weniger besorgniserregenden Ausgang gewünscht hätte. Aber auch der Bronze-Gewinner Ugur Aktas aus der Türkei blieb nicht unversehrt. Er humpelte zur Siegerehrung. Bei der Pressekonferenz verabschiedete er sich vorzeitig wegen der Schmerzen.

Und am Nachmittag hatte sich der deutsche Weltmeister Jonathan Horne aus Kaiserslautern in seinem zweiten Vorrunden-Kampf gegen den Georgier Gogita Arkania kurz vor Schluss bei 4:3-Führung schwer am Arm verletzt. Er verzog das Gesicht, er schrie. Auch er verließ die Halle auf der Trage und Christian Grüne, Sportdirektor des Deutschen Karate Verbands, sagte dem Sportinformationsdienst: "So wie es aussieht, ist wahrscheinlich das Ellenbogengelenk rausgesprungen oder der Arm überstreckt."

Karate als Gesundheitsrisiko? Das Urteil wäre ungerecht. Knockouts sind selten in dem Kampfsport. Außerdem gibt es ja nicht nur die Zweikampf-Disziplin Kumite, sondern auch noch die Kata, den Contest um die schönste Kampfchoreografie gegen einen unsichtbaren Gegner. Aber wie auch immer man die olympischen Karate-Turniere von Tokio bewertete, begeistert oder ablehnend - nach der Premiere mussten die Sportlerinnen und Sportler schon wieder Abschied nehmen von der großen Bühne der olympischen Spiele.

Die Agenda des IOC-Präsidenten Thomas Bach lässt es zu, dass jeder Olympia-Veranstalter für seine Spiele neben den 28 festen Sportarten bis zu fünf vorläufige auswählen kann. Tokio wählte Skateboarden, Surfen, Sportklettern, Baseball bzw. dessen Frauen-Variante Softball und eben Karate. Die ersteren Drei wird das Organisationskomitee von Paris 2024 halten. Neu dazu wählt es Breakdance und belässt es dabei. Baseball/Softball fällt wieder raus. Karate auch.

Die Karate-Pioniere von Tokio sind also auch gleichzeitig die letzten Karateka bei den Spielen. Was dieses Rein und Raus für die Planungssicherheit von Fachverbänden und Athleten bedeutet, kann man sich vorstellen. Erst können sie mit öffentlicher Olympiaförderung rechnen, dann wieder nicht. Kurz haben sie die olympische Aufmerksamkeit, dann wieder nicht. Die Sportlerinnen und Sportler müssen sich fühlen wie Figuren, die die Ringe-Betreiber beliebig über ihre Spielfelder schieben.

"Ich finde, das ist wirklich ungerecht, nur einmal dabei sein zu dürfen", sagt Feryal Abdelaziz, 22, aus Kairo, Goldgewinnerin im Kumite der Gewichtsklasse über 61 Kilo. Im wirklichen Leben ist sie Pharmazie-Studentin und eine muslimische Frau. Sie kämpft mit Kopftuch. Sie sagt, dass sie "Schwierigkeiten zu überwinden hatte". Ihre Geschichte ist sicher bedeutsamer als ein olympisches Turnier, aber ihr Olympiasieg, der erste einer Ägypterin überhaupt, dürfte ein Mutmacher für viele andere muslimische Frauen auf der Welt sein. Das moderne Olympia gibt ihr trotzdem nur eine Chance.

Die Olympia-Zweite Irina Zaretska hofft, dass sie ein Vorbild für Mädchen sein kann

Andere betonen lieber, wie froh sie sind, wenigstens diese zu haben. "Alle sind dankbar, Tokyo 2020 erleben zu dürfen", sagt zum Beispiel Gong Li, Bronze-Gewinnerin aus China, ehe sie hinzufügt: "Ich hoffe, da kommt noch mehr." Alle in der Karate-Gemeinde hoffen das. Für manche geht es vor allem um ihr Selbstverständnis als Leistungssportler. Für andere um viel mehr. Wie bei Feryal Abdelaziz. Oder wie bei der Silbergewinnerin Irina Zaretska, 25, einer gebürtigen Ukrainerin, die für Aserbaidschan startet. Sie hatte Mühe zu sprechen, so bewegt war sie vom olympischen Geist. Mit zitternder Stimme und in fließendem Englisch sagte sie: "Ich will in Aserbaidschan viele Mädchen unterstützen, die glauben, dass sie nicht so kraftvoll sein können wie Jungs." Natürlich möchte sie auch, dass Karate olympisch bleibt. "Ich hoffe, die Leute ändern ihre Meinung noch."

Es sieht nicht danach aus. Und wer weiß, wozu das gut ist. Tareg Hamadi hätte sich jedenfalls am Ende vermutlich ein bisschen weniger Aufmerksamkeit gewünscht. Jetzt hat alle Welt gesehen, wie er Sajad Ganjzadeh in den K.o. trat. Und natürlich wollten ausländische Journalisten wissen, warum das Schiedsgericht ihn disqualifiziert hatte. "Das müssen sie die fragen", sagte er abschließend. Man hatte das Gefühl, er war froh, als Olympia vorbei war.

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