Süddeutsche Zeitung

Kanu-WM in Ungarn:Volldampf ins halbe Rennen

Lesezeit: 3 min

Olympiasieger Rendschmidt muss sich auf die 500-Meter-Distanz umstellen: Wie das gelingt, soll nun die WM zeigen.

Von Saskia Aleythe, Berlin

Max Rendschmidt isst Kuchen in Kienbaum. Ein Sportlercafé am Bundesleistungszentrum östlich von Berlin darf man sich nicht so vorstellen, als gäbe es dort nur Müsliriegel und Proteine. Kuchen ist wichtig, Apfel mit Streuseln zum Beispiel. Und Rendschmidt ist als Schlagmann im Vierer darauf angewiesen, dass auch die anderen drei Kollegen ihre Muskelmasse halten und keiner plötzlich abnimmt und das Boot dann eine andere Wasserlage bekommt. "Da darf man auch mal reinhauen", sagt der Doppel-Olympiasieger. Und kaut.

In Kienbaum essen sie Kuchen, die Kanuten, ab und zu. Im Juli haben sie sich hier zusammen auf die WM vorbereitet, die ab Mittwoch in Szeged in Ungarn ansteht. Dort wollen sie sich für die Olympischen Spiele in Tokio qualifizieren. Dem Vierer kommt dabei das größte Gewicht zu, vier der möglichen sechs Quotenplätze im Kajak-Bereich der Männer können dort erobert werden. Aber der Vierer hat eine interessante Verwandlung hinter sich: Das Boot, mit dem Rendschmidt in Rio Olympiasieger wurde, ist jetzt nur noch über die halbe Distanz olympisch: 500 statt 1000 Meter. Statt Langstrecke also ein Zwischending. Wie macht man das: Plötzlich so ein Zwischending zu werden?

Die Erinnerungen an Rio enden bei Max Rendschmidt mit einem Sprung ins Wasser. Erst Gold im Zweier über 1000 Meter mit Marcus Groß, dann der Sieg im Mannschaftsboot, dann der Hüpfer in die brasilianische Lagune. Die Woche nach Olympia war gefüllt mit Interviews und Fernsehterminen. "Danach bin ich wieder recht schnell auf den Boden der Tatsachen zurückgekommen", sagt Rendschmidt und lacht, er will zeigen, dass ihn die Medaillen nicht verändert haben. Die Ausbildung zum Polizisten ging weiter, "da sitzt man mit allen wieder im Unterricht und muss die Gesetze büffeln".

Fast drei Sekunden Vorsprung hatte der Vierer in Rio auf die Zweitplatzierten aus der Slowakei, eine andere Welt. Oder: ein sehr "trainerfreundliches" Rennen, wie es der leitende Kanu-Bundestrainer Arndt Hanisch heute nennt, lange bangen musste er nicht. "Das will der allgemeine Zuschauer aber wahrscheinlich nicht sehen", weiß Hanisch, "der will dann schon Drama." Im Internationalen Kanuverband (ICF) überlegen sie viel, wie der Sport fürs Publikum spektakulärer werden könnte. Und wer kürzer fährt, kann weniger Vorsprung herausfahren. "Beim 500-Meter-Vierer reden wir über die erste oder zweite Stelle hinter dem Komma, die über die Medaillen entscheidet", sagt Hanisch.

Und nun? Einfach alle kürzer fahren lassen? So einfach geht das nicht. Durch die halbe Strecke wird mit höherer Schlagzahl gefahren, das Paddel bleibt kürzer im Wasser. "Das können ganz viele nicht", sagt Hanisch. Die ganze Kraft in winzige Momente zu pressen, immer und immer wieder. "Man braucht deutlich mehr Schnellkraft", sagt Rendschmidt. Aus dem Vierer aus Rio sind er und Tom Liebscher geblieben, Hanisch nennt sie: "Die, die alles können." Max Hoff und Marcus Groß mussten ihre Plätze abgeben, neu dazu gekommen sind Ronald Rauhe und Max Lemke: "Die, die kurz können". Für den 37-jährigen Rauhe wären es in Tokio die sechsten Olympischen Spiele, er wollte nach Rio und insgesamt vier Medaillen seine Karriere beenden und hat nur aufgrund der Änderung die Paddel doch wieder in die Hand genommen. Zusammen mit Lemke, 22, soll er für die Geschwindigkeit am Start sorgen und muss dann mithalten, wenn die anderen beiden mit ihren Endspurtkräften die Ziellinie ansteuern.

Bei einem Trainingslager 2017 wurde jeder mal umgesetzt, wie Spielfiguren. "Jeder hat einen anderen Körperbau und andere Veranlagungen beim Paddeln", sagt Rendschmidt, "an manchen Stellen muss das Boot breiter oder schmaler werden. Dann muss auch manchmal die Sitzposition verändert werden." Für den 25-Jährigen, der ganz vorne gelandet ist, fühlte sich das Fahren dann auch anders an als über 1000 Meter. "Man merkt natürlich, dass da jetzt ein 200-Meter-Fahrer hinter einem sitzt. Da kommt deutlich mehr Druck, und man kann deutlich mit der Schlagzahl hochgehen." Doch auch da ist Vorsicht geboten, "da darf man nicht ins Unermessliche gehen und muss sich zurückhalten, damit man auch die Gleitphase voll ausnutzt". Das Problem für die Konkurrenz: Trotz der Verkürzung ist der deutsche Vierer weiter kaum zu schlagen. 2017 und 2018 gewann das Quartett wieder WM-Gold, nur in diesem Jahr bei den European Games in Minsk musste es sich Russland geschlagen geben. Und das zuschauerfreundlich: im Schlussspurt. Für die Olympia-Qualifikation reicht im Vierer bei der WM Rang zehn, eine Medaille hat der Verband trotzdem im Blick. Die Frauen kämpfen erstmals in zwei Canadier-Rennen um Olympianormen, für Geschlechtergleichheit wurden in Tokio zwei Männer-Strecken gestrichen.

Und Rendschmidt, der Mann der Doppelerfolge, muss in Ungarn auf Doppelstarts verzichten: Obwohl er vor einem Jahr WM-Silber im Einer über 1000 Meter gewann, tritt er in diesem Jahr nur im Vierer an. Das gleiche gilt für Tom Liebscher, Einer-Weltmeister von 2017. Schuld ist der Modus, nach dem dieselben Athleten nicht mit mehreren Booten Quotenplätze holen können. Deswegen gehen in den Einer-Rennen andere Sportler an den Start. "Wir lassen eigentlich Medaillen liegen", sagt Bundestrainer Hanisch.

Max Rendschmidt hat seine zwei goldenen Plaketten aus Rio daheim in Essen im Tresor verstaut. "Ein bisschen schade ist, dass zwei Olympiasiege in Deutschland nicht anerkannt werden", sagt er, eine zweite Prämie gibt es nicht. Dann beißt er noch mal in den Kuchen, was bleibt ihm anderes übrig?

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Quelle:
SZ vom 21.08.2019
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