Süddeutsche Zeitung

Kanu:Historischer Stapellauf

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Erstmals dürfen Frauen bei Olympia im Canadier antreten. Lisa Jahn will sich beim Weltcup in Szeged einen Startplatz erpaddeln.

Von Barbara Klimke, München

Im Kanu wird volle Fahrt geradeaus gepaddelt. Rückschauen hat dieser erfolgsgekürte Wasserrennsport hierzulande selten im Programm. Dennoch hat sich der Sportdirektor des Verbandes, Jens Kahl, kürzlich eine Reminiszenz erlaubt: Die Olympiaabsage voriges Jahr habe alle Athleten getroffen, berichtete er, die Reaktionen reichten von Zukunftsängsten bis zu einem trotzigen "Jetzt erst recht". Lisa Jahn, 27, Canadier-Spezialistin aus Berlin, gehörte zweifellos zur zweiten Kategorie. In der Verschiebung der Spiele hat sie schnell Positives entdeckt, eine Chance "zur Weiterbildung", wie sie sagt: "Ich bin ja noch relativ jung in der Disziplin."

Überhaupt ist der Canadier für Frauen ein junges Boot. In Japan wird er im Juli zum ersten Mal bei Olympia zu Wasser gelassen, und Lisa Jahn hofft, beim historischen Stapellauf in der Bucht von Tokio dabei sein zu dürfen, im Einer, im Zweier oder in beiden Wettbewerben. Zwei Quotenplätze für den Deutschen Kanu-Verband (DKV) hat sie bei der WM 2019 in Szeged im Zweier vor 16 Monaten erobert, dem letzten Wettbewerb für die deutschen Spitzenkanuten vor der Pandemie. Erst an diesem Wochenende wird wieder international drauflos gepaddelt, beim Weltcup erneut auf der Regattastrecke in Ungarn. Lisa Jahn tritt als Solistin über die 200-m-Distanz an. Zusätzlich wird sie sich mit ihrer Partnerin Sophie Koch über 500 Meter unter anderem gegen die interne Zweier-Konkurrenz aus Potsdam, Ophelia Preller/Annika Loske, behaupten müssen. Erst anschließend fällt im DKV die Entscheidung über die Bootsbesatzungen bei der Olympia-Premiere - und damit über das große Wasserwagnis auf einem Wackelkahn, auf das sich Lisa Jahn eingelassen hat.

Denn sie stieg 2016 nach zwölf erfolgreichen Jahren im schmalen Kajak in den noch schmaleren Canadier um. Es war mehr als nur ein Wechsel einer sportlichen Disziplin. "Ich bin einen sehr großen Schritt zurückgegangen, um noch einmal ganz von vorn zu beginnen", sagt sie: "Was daraus werden würde, konnte damals keiner wissen." Sie war schon Junioren-Weltmeisterin im Vierer. Aber die Konkurrenz um die Plätze in den Spitzenbooten ist hart in einem Land, in dem die Kanuten seit Jahrzehnten zu den erfolgreichsten Medaillensammlern aller Sommersportverbände zählen. Und weil Lisa Jahn von einer Olympiateilnahme träumte, legte ihr Berliner Trainer Lars Kober ihr nahe, per Stechpaddel Kurs aufs große Ziel zu nehmen.

Es war ein Neuanfang in einem Boot, in dem sie nicht mehr saß, sondern kniete; in dem sie nur noch links paddelte. Sie musste lernen, geradeaus zu fahren: "Denn wenn man nur auf der einen Seite anschiebt, fährt man automatisch zur anderen." Acht bis zehn Jahre, erklärten damals die Experten, benötige der Umstieg bis zur höchsten Spitzenklasse. Aber Lisa Jahn, die dankbar ist, dass der Verband sie damals in jeder Hinsicht unterstützte, kniete sich rein: Nach knapp einem Jahr gewann sie die deutsche Meisterschaft, zwar habe sie in einer Schlingerfahrt "noch etwas unbeholfen die Bahn ausgemessen", erzählt sie amüsiert, aber sie war als Schnellste im Ziel. "Der erste Lichtblick", wie sie sagt.

Die Konkurrenz in Deutschland war anfangs nicht groß, auch weil der Verband nach der Einschätzung des DKV-Präsidenten Thomas Konietzko nach der Aufnahme der Canadier-Frauenwettbewerbe ins WM-Programm 2010 das Potenzial verkannt hatte: "Dass Frauen im Canadier fahren, wurde anfangs von den großen Nationen, zu denen auch Deutschland gehörte, belächelt." Dann habe ein Mentalitätswechsel eingesetzt, mittlerweile sind die Spezialistinnen etabliert. Der Fortschritt zeigt sich bei den jungen Athletinnen: Sie werden nicht mehr umgeschult, sondern lernen von Kind das Kajak- und das Canadierfahren.

Seit auch das Internationale Olympische Komitee im Kanusport auf Geschlechtergleichheit drängte, haben viele Verbände mit weniger etablierten Strukturen die Disziplin als Nische entdeckt, was Konietzko, auch Vizepräsident im Weltverband ICF, besonders freut. Weltmeisterin im Einer 2019 wurde die US-Amerikanerin Nevin Harrison, damals erst 17 Jahre alt; Harrison ist auch diesmal in Szeged an Bord. Am Donnerstag schlug zwar der Versuch von Annika Loske aus Potsdam fehl, noch einen dritten Olympia-Startplatz im Canadier für die DKV-Frauen zu erobern. Aber Lisa Jahn hat 2019 bei den European Games in Minsk Silber gewonnen, war im Zweier WM-Vierte und sie fand vor ihren Wettbewerben: "Ich brauche mich nicht zu verstecken." Das Rennen um Tokio nimmt gerade erst Fahrt auf.

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