Völlig abgekämpft stand Lennard Kämna im Ziel, und es begann eine fiese Zeit des Wartens. Zwei Minuten vergingen, vier, sechs, acht, dann endlich kam das Hauptfeld um den Gesamtführenden Tadej Pogacar, das es über weite Strecken des Tages recht gemütlich hatte angehen lassen. Es schob sich die letzten Meter hinauf zum Ziel in Megève, Pogacar selbst trat noch einmal an - und dann war Kämnas großer Traum auf denkbar knappe Weise geplatzt. Wenn Pogacar schlappe elf Sekunden später im Ziel angekommen wäre, dann wäre Kämna nach dieser mittelschweren zehnten Etappe im Gelben Trikot gewesen.
Die Tour ist noch nicht mal zur Hälfte vorbei, aber das Dramenpotenzial hat Lennard Kämna, 25 Jahre alt, gebürtig aus Fischerhude und seit dem Jahr 2020 fürs Team Bora aktiv, schon weidlich ausgeschöpft. Auf der Vogesen-Etappe zur Planche des Belles Filles vor ein paar Tagen steuerte er dem Sieg entgegen, bis auf der steilen Schotterrampe 100 Meter vor dem Ziel Pogacar noch an ihm vorbeiflog. Und am Dienstag glückte ihm der Sprung in eine große Ausreißergruppe, die dann erstaunlicherweise so weit davonfahren durfte, dass Kämna irgendwann nicht nur den Tagessieg, sondern auch das Maillot Jaune anvisieren durfte.
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Zwischendurch wurde es noch mal besonders wild, weil Klimaaktivisten die Strecke blockierten und die Tour-Direktion das Rennen kurz unterbrach, aber das kam den Ausreißern eher zugute. Und so entspann sich auf dem 20 Kilometer langen, aber nicht allzu schweren Schlussanstieg Kämnas Kampf, irgendwie die für den Gelb-Erwerb notwendigen 8:43 Minuten vor Pogacar ins Ziel zu kommen. Den Tagessieg musste er aufgeben, den holte sich dann der Däne Magnus Cort Nielsen, und als Vorsprung auf Pogacar blieben dann - 8:32 Minuten. "Ich habe das im Berg gar nicht so realisiert, dass ich eine so große Chance auf das Gelbe Trikot hatte", sagte Kämna im Ziel: "Ich hatte das erst auf den letzten drei Kilometern realisiert. Da bin ich dann Vollgas gefahren. Elf Sekunden hätte ich sicher irgendwo holen können."
Es ist bemerkenswert, auf welchem Level sich Kämna bei dieser Frankreich-Schleife präsentiert. Schon lange gehört er zu den herausragenden Talenten im deutschen Radsport, stark in den Bergen, stark im Zeitfahren. Vor zwei Jahren bereits hat er bei der Tour eine Etappe gewonnen und danach ist viel von ihm erwartet worden. Stattdessen hat er seinem Kopf und seinem Körper auch mal eine längere Pause gönnen müssen. Es sind diese Phasen, die der Radsport seinen jungen Profis viel zu selten einräumt. Kämna aber tat das merklich gut und in diesem Jahr ist er nun besonders stark. Schon beim Giro trumpfte er auf, als er die Etappe auf den Ätna gewann und kurzzeitig das Bergtrikot trug - und nun legt er bei der Tour noch einmal nach.
Quasi seit Beginn seiner Profikarriere muss sich Kämna die Frage anhören, ob er es nicht auch mal im Gesamtklassement versuchen wolle. Dass er grundsätzlich das Potenzial dazu hat, bescheinigen ihm alle. Aber bei der aktuellen Schleife sollte er sich eigentlich noch auf Etappensiege und Assistentendienste für seinen russischen Bora-Kapitän Alexander Wlassow konzentrieren. Doch nun, da er zur Rennmitte Gesamtzweiter ist, könnten sich die Prioritäten auch noch einmal verschieben.