Juventus Turin:Nur Küssen ist verboten

Db Villar Perosa To 17 08 2017 amichevole Juventus A Juventus B foto Daniele Buffa Image nel; Buffon villar perosa

Gianluigi Buffon: Spielt mit in Villar Perosa

(Foto: imago/Gribaudi/ImagePhoto)
  • In einer schlossähnlichen Rokoko-Villa hoch über Villar Perosa residieren seit 1850 die Agnelli, der Familie gehört Juventus Turin seit 1923.
  • Seit den 1960er-Jahren wird die "Partitella" (kleines Match) vor Publikum in Villar Perosa veranstaltet. Das soll eine Geste der Agnelli für ihre Nachbarn sein.
  • Es geht im Mannschaftsbus von der Villa in den Hügeln nach unten, zum Juve-Volk, das die Spieler so hautnah erleben darf wie nirgends sonst.

Von Birgit Schönau, Villar Perosa

In der 52. Minute ist auf einmal Schluss. "Invasione", tönt es von der Tribüne, umgehend wird der Schlachtruf Wirklichkeit, und das Spielfeld ist voller Fans, die Jagd auf ihre Idole machen. Wer das hier schon kennt, es gar zum 17. Mal mitmacht wie Gianluigi Buffon oder zum 13. Mal wie Giorgio Chiellini, hat beizeiten das Weite gesucht. Auch Massimiliano Allegri flüchtet, sobald die erste Silbe des I-Wortes verklungen ist, denn was nun passiert, wäre der Autorität eines Juventus-Meistertrainers doch ziemlich abträglich. Man kann sich nur kampflos ergeben wie Gonzalo Higuaín und Andrea Barzagli, beide offenbar bestens vorbereitet auf den Höhepunkt dieses weltweit wohl einmaligen Fußballfestes, denn sie tragen tadellose Unterwäsche.

Higuaín hat sich, vielleicht für genau diesen ebenso rauschhaften wie rituellen Zwangsstriptease, sein Bäuchlein abtrainiert. Barzagli gibt in klassischem Feinripp sogar noch stoisch Autogramme, was soll's, mit 36 Jahren macht er das wahrscheinlich ja zum letzten oder vorletzten Mal, bevor unwiderruflich die Rente kommt. Nur Küsse werden von den Ordnern gerade noch abgewehrt, aber Anfassen ist selbstverständlich erlaubt. Am Samstag, wenn im Turiner Juve-Stadion gegen Cagliari die Serie-A-Saison offiziell eröffnet wird, dürfen die Spieler dann wieder Distanz wahren.

"Sami, ein Foto!" Doch Khedira überhört das Schmachtgeheul

Aber dieser Sportplatz in einem Dorf 64 Kilometer südwestlich von Turin kennt keine Barrieren. Die ganze absurde Abschottung des Profibetriebs, die Globalisierung der Unterhaltungsindustrie Fußball, mögen jenseits der grünen Hügel des Piemonteser Alpenvorlandes Realität sein, hier gehört einer der berühmtesten und erfolgreichsten Klubs der Welt noch vielen Fans und einer Familie. In einer schlossähnlichen Rokoko-Villa hoch über Villar Perosa residieren seit 1850 die Agnelli. Als Seidenraupenzüchter fingen sie an, bevor sie aufstiegen zum reichsten und mächtigsten Industriellenclan des Landes. Giovanni Agnelli gründete 1899 den Autokonzern Fiat, da war der von Turiner Gymnasiasten gegründete Fußballklub Juventus zwei Jahre alt. Seit 1923 gehört Juve der Familie Agnelli: Weltrekord. Und seit den 1960er-Jahren wird die "Partitella" (kleines Match) vor Publikum in Villar Perosa veranstaltet. Die Profis müssen dabei gegen die eigene Jugendmannschaft antreten, Juventus A gegen Juventus B, ein Riesenspaß für alle, abgesehen vermutlich von den Protagonisten. Aber drücken darf sich hier keiner.

Juventus A v Juventus B - Pre-Season Friendly

Aus ganz Italien und dem Ausland reisen sie an, 5000 Fans drängen sich im winzigen Stadion: In Turin hat der Anhang ein Recht auf sein Fußballfest.

(Foto: Getty Images)

Es handelt sich um eine kleine Gutsherren-Geste der Agnelli für ihre Nachbarn in dem 4000-Einwohner-Ort. Oder soll man sagen: Ex-Untertanen? Lange besaß die Familie auch die im Ort ansässige Kugellagerfabrik und war damit größter Arbeitgeber von Villar Perosa. Nebenbei amtierte Fiat-Chef Gianni Agnelli auch noch 30 Jahre lang als Bürgermeister. Seine Frau Marella Caracciolo, eine Prinzessin aus altem neapolitanischen Geschlecht, hat den Schlosspark von Villar Perosa zu einem der schönsten Gärten Europas gestaltet. Man wähnt sich in einem Zaubergarten.

Dort wird am Mittag vor dem Spiel die erste Mannschaft empfangen, zu einem kleinen Buffet und einer Ansprache des Präsidenten Andrea Agnelli, einem Urenkel des Fiat-Gründers. Die Stimmung ist verhalten. Sicher, Juventus hat gerade den sechsten Meistertitel und den dritten Pokal in Serie gewonnen - ein Rekord der Vereinsgeschichte. Aber die wichtigste Trophäe ist an Real Madrid gegangen, die Champions League. Das Finale in Cardiff verlor Juventus 1:4, und bis heute ist, wie der Argentinier Paulo Dybala freimütig gesteht, "der Albtraum noch nicht überwunden".

Neben der Champions League fehlt auch der Ligapokal, den am vergangenen Sonntag Lazio Rom gewann. Beim 2:3 wirkte Juve fahrig und uninspiriert wie lange nicht. In der Abwehr fehlt schmerzlich Leonardo Bonucci, der in diesem Sommer, offenbar im Streit mit dem Trainer, für 40 Millionen Euro zum AC Mailand gewechselt ist. Die Zugänge, allen voran Douglas Costa (Leihgabe vom FC Bayern) und Blaise Matuidi (erworben von Paris St. Germain) müssen noch integriert werden. Juventus ist jedes Jahr eine Baustelle, die Fluktuation erheblich. Aber diesmal betrifft sie zum ersten Mal eine Abwehr, die von jeher die Säule der Mannschaft war.

Nicht allen gefällt das Bad in der Menge

Auf dem Dorfplatz von Villar Perosa soll davon, bitte schön, nichts zu spüren sein. Schließlich hat der Anhang ein Recht auf sein Fußballfest. Es geht im Mannschaftsbus von der Villa in den Hügeln nach unten, zum Juve-Volk, das die Spieler so hautnah erleben darf wie nirgends sonst. Es gibt keine Sicherheitszone zwischen Rasen und Tribüne, die Leute stehen dicht gedrängt gleich hinter der Absperrung. Wer sich zum Aufwärmen von der Bank erhebt, muss gleich mal Autogramme geben oder für Handyfotos herhalten. Und wer ausgewechselt wird, der zieht am besten gleich sein Trikot aus und gibt es ohne zu zicken ab. Der neue Reservetorwart Wojciech Szczesny wehrt sich noch unbeholfen: "Das geht nicht, ich brauche das Hemd vielleicht noch!" Bis ihm Kollege Chiellini, der selbst schon ungefähr 60 Handyfotos absolviert hat, mit ein, zwei Gesten bedeutet, er solle sich nicht so blöd anstellen.

Es ist eine beispiellose Demutsübung, die die Juve-Profis hier absolvieren. Auf dem Campo Sportivo Gaetano Scirea, benannt nach dem 1989 tödlich verunglückten, bis heute verehrten Juventus-Kapitän, werden sie mit denen konfrontiert, für die sie spielen, pardon: arbeiten. Eine wilde, aber liebevolle, ja rührende Horde Fans, in Bussen und Wohnmobilen angereist aus ganz Italien und dem angrenzenden Ausland, ausgestattet mit Eintrittskarten für maximal 20 Euro. Knapp 5000 drängen sich im winzigen Stadion, im vergangenen Jahr waren es fast doppelt so viele, aber neuerdings gelten verschärfte Sicherheitsregeln. Nicht allen gefällt das Bad in der Menge. Sami Khedira schaut, als verdaue er gerade ein Pfund Piemont-Kirschkerne. Beharrlich starrt er zu Boden und überhört das Schmachtgeheul in seinem Rücken. "Sami, so dreh dich doch mal um! Sami, ein Foto!" No way, man ist schließlich amtierender Weltmeister.

Nun, das zählt nicht in Villar Perosa, wo Juventus A gegen Juventus B nicht mehr zustande bekommt als einen Pfostenschuss von Mario Mandzukic und einen Lattentreffer von Higuaín. Die Jugendmannschaft, die im Italienischen den poetischen Namen Primavera - Frühling - trägt, zeigt sich unbeeindruckt von all den großen Namen, die sich teilweise schon im Spätherbst ihrer ruhmreichen Karrieren befinden. Fast hätte Papà Buffon hinter sich greifen müssen. So gesehen ist die Invasion beim Stand von 0:0 fast ein Akt der Gnade.

Aufregende Wochen für den Präsidenten

Für den Präsidenten und seinen Vize Pavel Nedved ist gleich neben der Reserve-bank ein kleines Zelt aufgebaut worden, sie haben die Siegertrophäen der vergangenen Saison mitgebracht, die werden vorsichtig in den Schatten gestellt. Andrea Agnellis Vorfahren saßen noch einfach auf dem Rasen, es gibt sagenhafte Fotos von seinem Onkel Gianni, dem Fiat-Boss und Lebemann, der im Schneidersitz und mit offenem Hemdkragen der "Partitella" beiwohnt - ein unerreichtes Idol der Lässigkeit.

Andrea, 41, ist da viel zugeknöpfter, seine Anzugjacke hat er angesichts der auch in der Cäsarenloge schwülen 32 Grad zwar ausgezogen, aber die Krawatte sitzt stramm. Den jungen Klubchef erwarten aufregende Wochen, sogar sein Amt steht zur Disposition, wenn ihn Mitte September tatsächlich das Verbandsgericht zu einer dreijährigen Sperre verurteilen würde. Dieses Urteil droht Agnelli, weil er als Präsident dafür einstehen muss, dass Juventus über Jahre Tickets an eine Fangruppe abgab. Die Klubführung ahnte nicht, dass die organisierten Ultras die Karten im Auftrag eines Mafia-Clans verscherbelten.

Doch von diesen Sorgen lässt sich Andrea Agnelli bei dieser Gelegenheit nichts anmerken. Auch er schüttelt bei diesem rauschenden Familienfest des Weltfußballs unzählige Hände, streichelt über Kinderköpfe und lächelt in Dutzende Handys, bevor er kurz vor der Invasion untertaucht. Und das beruhigende Gefühl hinterlässt: Auch wenn die Welt untergeht - im nächsten Jahr treffen sich in Villar Perosa wieder Juventus A und Juventus B. Familienfeste muss man feiern, wie sie fallen.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: