Mit alten Geschichten stellte sich ein alter Bekannter am Donnerstag bei der alten Dame vor. Igor Tudor berichtete von früher, bei seiner ersten Pressekonferenz als Cheftrainer von Juventus Turin, dem Klub, bei dem er in den Nullerjahren Spieler gewesen war und 2020/21 Co-Trainer. Er erzählte von Zinédine Zidane, dem er aus Respekt den Vortritt lassen wollte, der aber darauf verzichtete. Von Alessandro del Piero, der ihn einst darauf hinwies, er solle seine Socken nicht verkehrt herum ausziehen, damit es der Zeugwart leichter habe beim Waschen. Und von den Trainern erzählte Tudor, vom damals noch jungen Carlo Ancelotti, von Fabio Capello, von Marcello Lippi, der ihn damals aus Split nach Italien brachte, in die große Fußballwelt. „Wenn ich an ihn denke, denke ich an Juve“, sagte Tudor: „Ich liebe ihn.“
Es ist natürlich nicht messbar, wie schnell ein neuer Trainer einen Verein für sich gewinnt – aber Tudor, 46, könnte mit seiner Seelen streichelnden Pressekonferenz einen Rekord aufgestellt haben. Die Geschichten von früher waren Teil dieses ersten Auftritts, aber auch die offene Besprechung der Probleme der Gegenwart in klaren Worten, Tudor saß schließlich nicht grundlos auf dem Podium: Der Kroate muss bei der Juve, die er über alles liebt, innerhalb von neun Spielen eine Saison retten, die den Aufbruch in ein neues Zeitalter markieren sollte. Die nun allerdings Gefahr läuft, sie um Jahre zurückzuwerfen.
Man muss noch einmal zurückschauen, um das ganze Drama zu begreifen. Im vergangenen Sommer wurde in Turin nicht nur ein Trainer vorgestellt, sondern der Plan für eine neue Ära. Thiago Motta, 42, stand mit seinen Ideen für die modernste fußballerische Denkschule. Er hatte mit dem FC Bologna sensationell die Champions League erreicht, weil er dort ein verwegenes Kombinationsspiel aufzog, mit eingebauten Elementen all der großen Trainer der vergangenen Jahre. Eine Art Guru-Status hatte ihm das eingebracht in der Welt der Taktiker – und in Turin wollte man ihm nun die Bühne bieten für die Umsetzung all seiner Ideen.
Der ganze Verein wurde dafür umgekrempelt, einigermaßen radikal. Die Transferperiode bestimmten Zugänge wie der des Niederländers Teun Koopmeiners für mehr als 50 Millionen Euro aus Bergamo, während etwa der Angreifer Federico Chiesa in Windeseile vom Hof gejagt wurde: Mottas Abschussliste, die er im August den Medien öffentlichkeitswirksam vortrug, enthielt eine Reihe von Spielern, die bei der alten Juve viel geleistet hatten. Bei der Neuerfindung des Vereins allerdings sollten sie keine Rolle mehr spielen dürfen. Im Nachhinein weiß man nun: Keine zwei Monate nach seinem Antreten war das bereits der Anfang vom Ende für Mottas Wirken in Turin.

Lange verzieh man ihm spielerisch enttäuschende Leistungen mit dem Hinweis auf den Projekt- und Entwicklungsstatus, auch weil die Mindestkriterien stimmten: Erschreckende Niederlagen wie gegen den VfB Stuttgart in der Champions League glichen Siege wie gegen Manchester City wieder aus. In der Liga sammelte Juve immerhin keine Niederlagen, sondern Unentschieden mit wenigen Gegentoren. Innerhalb der Mannschaft allerdings, so hört man aus dem Umfeld des Vereins, rumorte es im Winter schon. Dass Motta das Vertrauen der wichtigsten Spieler wie des Stürmers Dusan Vlahovic verlor, bekam man schließlich auch auf dem Feld zu sehen. Das Champions-League-Aus gegen Eindhoven, das Pokal-Aus gegen Empoli, das 0:4 gegen Atalanta Bergamo und das 0:3 gegen AC Florenz – eine solche Serie an Desastern überleben nicht einmal Trainer, die das komplette Vertrauen ihrer Mannschaft besitzen.
Motta hat all die Klischees bestätigt, die über seine Generation im Umlauf sind
Harte Gespräche sollen danach laut Medienberichten gefolgt sein, zwischen Manager Cristiano Giuntoli und Motta, die beide als Verlierer dastehen. Der junge Trainer auf der einen Seite hat all die Klischees bestätigt, die über seine Generation im Umlauf sind: Motta wollte zu radikal vorgehen, seine fußballerischen Ideen um jeden Preis durchsetzen, anstatt Kompromisse zu akzeptieren. Genie zu sein reicht allerdings nicht aus bei großen Vereinen, erst recht nicht, wenn man für möglichen Erfolg einen ganzen Verein nach den Maßstäben des Trainers umbauen muss. Gut möglich, dass Motta in Turin seine vorerst beste Chance verspielt hat, ein großer Trainer bei einer großen Mannschaft zu werden. Nicht ohne Häme warf man ihm daher beim Abschied auch noch ein kleines PS hinterher: Der FC Bologna steht ohne Motta schon wieder auf Platz vier der Tabelle, vor Juventus, das nur am Rande.
In Turin hat man allerdings auch verloren. Giuntoli etwa ließ es zu, dass als Reaktion auf den eigenwilligen Massimiliano Allegri – Mottas umstrittenen, aber erfolgreichen Vorgänger – erneut nicht der Verein, sondern der Trainer den Weg vorgab. Das dürfte sich nun ändern. Vorerst unter Tudor, einem fleißigen, emotionalen, wenngleich bislang spektakulär erfolglosen Trainer, der aber immerhin die Liga bestens kennt. Und dann wohl unter einem neuen Kandidaten, ab dem Sommer nach der Klub-WM, der sich schon jetzt unter genauer Beobachtung fühlen darf – egal ob es Cesc Fàbregas vom FC Como werden sollte, dem man in Italien derzeit viele Jobs andichtet, oder doch die Wunschlösung mit dem einst so erfolgreichen Antonio Conte, der derzeit mit Napoli um die Meisterschaft kämpft.
Eine gewisse Skepsis gegenüber Erfolg versprechenden Trainern, die recht rücksichtslos ihre eigenen Vorstellungen einbringen, ist inzwischen spürbar. Bei der Juve, aber auch an anderen Orten im europäischen Fußball. Das ist das Erbe der kurzen Ära Thiago Motta.