Juventus Turin in der Champions League:Wenn die Kobra zweimal zubeißt

Juventus Turin in der Champions League: Noch einmal geschafft: Andrea Barzagli, Giorgio Chiellini und Gianluigi Buffon (v.l.) nach dem 2:1 in London.

Noch einmal geschafft: Andrea Barzagli, Giorgio Chiellini und Gianluigi Buffon (v.l.) nach dem 2:1 in London.

(Foto: AP)

Von Thomas Hummel

Als Giorgio Chiellini die Hereingabe im Rutschen unschädlich gemacht hatte, sprang er auf, sein Mitspieler Gianluigi Buffon hüpfte ihm entgegen, die beiden schrien sich im Rausch des Adrenalins an. Andrea Barzagli kam hinzu und brüllte ebenfalls wie ein Löwe durchs Wembley-Stadion. Alle sollten es hören: Wir sind noch da! Und wenn einer von uns den Ball am eigenen Tor vorbei zur Ecke grätscht, kann es schöner nicht werden.

Torwart Buffon, 40, und seine Verteidiger-Kumpel Chiellini, 33, und Barzagli, 36, stehen im Viertelfinale der Champions League. Juventus Turin gewann das Rückspiel in London gegen Tottenham Hotspur mit 2:1, was nach dem 2:2 im Hinspiel reichte. Wie die Italiener das geschafft hatten, wussten nur sie selbst. Es ist das Geheimnis dieses seltsamen Fußballstammes im Süden Europas, wie man als Sieger ein Spielfeld verlässt, obwohl man zuvor phasenweise grotesk unterlegen war. Obwohl der Gegner schneller, stärker, raffinierter, einfach viel besser war. Der calcio cinico, der zynische Fußball in Reinform.

Das englische Publikum schickte höhnisches Raunen durchs Stadion

"Wir glaubten bis zum Schluss daran. Wir haben unser Glück verdient", sagte Chiellini später im Ton der größter Überzeugung. Und fügte an: "Wir glauben an die Geschichte", weshalb seiner Ansicht nach tags zuvor auch die Neureichen aus Paris gegen den alten Adel von Real Madrid unterlegen waren. "Die Geschichte ist wichtig, die Erfahrung ist wichtig." War also alles vorherbestimmt?

Tottenham und Trainer Maurizio Pochettino sind immer noch so etwas wie die Beatles des modernen Fußballs. Sie wirken jung und elegant, bisweilen aufregend und betörend gut. Sie tragen die Angriffslust in sich, mit der sie in den vergangenen Jahren oft das Establishment überrannten. So sah es lange auch an diesem kalten Abend in London aus.

Mousa Dembélé zog seine Kreise im Mittelfeld. Dele Alli leitete Flugbälle mit der Hacke weiter zum Mitspieler. Christian Eriksen schleuderte Diagonalpässe über das ganze Spielfeld. Und links fuhr Heung Min-son mit doppelter Geschwindigkeit auf die italienischen Veteranen in der Defensive zu. Allein der Südkoreaner hätte das Spiel in der ersten Halbzeit locker entscheiden können. Doch er traf nur einmal, nach 39 Minuten zum 1:0. In dieser Szene ging alles so schnell, dass die Italiener samt ihres deutschen Nationalspielers Sami Khedira im eigenen Strafraum herumirrten und Buffon schon Sekunden vor dem Torschuss am Boden krabbelte.

Zu Beginn der zweiten Halbzeit rannten Turins Verteidiger ihre Gegenspieler reihenweise um. Nicht absichtlich, sie waren einfach zu langsam. Zu tollpatschig. Gelb für Medhi Benatia, Gelb für Chiellini. Miralem Pjanic stand kurz vor Gelb-Rot. Barzagli trat mehrfach gegen die Beine von Son, was der polnische Schiedsrichter aber übersah. Obwohl Juventus noch zwei Tore brauchte zum Weiterkommen, wechselte Trainer Allegri zwei neue Außenverteidiger ein. Es wirkte wie eine Kapitulation. Ein Angebot, es jetzt gut sein zu lassen mit der Demütigung. Das englische Publikum schickte höhnisches Raunen durchs Stadion, wenn die Italiener mal den Ball hatten. Die Leute sollten sich gleich wundern.

Tottenham wirkte wie betäubt

Der neue Außenverteidiger Stephan Lichtsteiner flankte, Khedira verlängerte und Gonzalo Higuaín lenkte den Ball zum 1:1 ins Netz. Nach 64 Minuten der erste Schuss auf das Tor der Engländer. 169 Sekunden später passte Higuain in den Lauf von Paulo Dybala, der allein enteilte und zum 2:1 verwandelte. Es schien, als wäre Juventus mehr als eine Stunde lang wie eine Kobra im Sand gelegen, die Kinder von Tottenham hätten zuerst scheu und dann immer mutiger mit ihr gespielt. Hätten ihr irgendwann im Übermut mit einem Stöckchen auf den Kopf gekloppt - bis diese völlig unerwartet zwei Mal zubiss. Und sich dann wieder hinlegte.

Mindestens leicht betäubt liefen die Spieler von Tottenham anschließend über den Rasen. Ein Gegengift fanden sie nicht mehr. Turin spielte mit elf Mann vor und im eigenen Strafraum, stellte sich in den Weg und grätschte Flanken zur Ecke. Hatten die Italiener selbst einen Einwurf, ging der Spieler so langsam zum Ball, dass er fast dabei gähnen musste.

So verstrichen die Minuten. Nur ganz zum Schluss köpfte Tottenhams Topstürmer Harry Kane eine Flanke an den Innenpfosten, von dort hoppelte er an der Torlinie entlang, bis Barzagli die Kugel in den Nachthimmel drosch. Das Tor hätte gezählt, obwohl Kane klar im Abseits gestanden hatte. Nicht einmal der Schiedsrichter konnte den jungen Engländern helfen. Die Vorsehung wollte es offenbar anders.

Pochettino saß nach dem Schlusspfiff im Presseraum des Wembley-Stadions. "Ich bin sehr stolz", sagte er, "über die zwei Spiele waren wie die viel bessere Mannschaft." Juventus habe im Rückspiel drei Chancen gehabt und zwei Mal getroffen, seine Mannschaft hatte viel mehr Möglichkeiten, traf aber nur einmal. "Es ist klar, dass wir viel mehr verdient hatten. Es war ein bisschen unfair." Er wirkte dabei immer noch wie betäubt.

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