Juventus Turin:Das Ende der Coolness

Champions League - Juventus vs Tottenham Hotspur

Zwei Tore geschossen, zwei verschenkt: Gonzalo Higuain, hier vor seinem verschossenen Strafstoß, wurde zum Emblem seines Teams.

(Foto: Max Rossi/Reuters)

Juve verspielt in Tottenham seine Favoritenrolle aus reiner Blasiertheit - und Trainer Massimiliano Allegri verliert die Nerven.

Von Birgit Schönau

Selten hat man Juventus-Trainer Massimiliano Allegri derart aufgebracht erlebt wie am späten Dienstagabend. "Es ist absolut inakzeptabel, dass hier nach einem 2:2 in einem Achtelfinale die Depression ausbricht", zeterte Allegri, gewöhnlich die Inkarnation einer fast schon provozierenden Juve-Coolness. "Wer glaubt, wir könnten ständig 3:0 gewinnen, soll sich kurieren lassen! Es geht mir auf den Zeiger, dass unsere Gegner so unterschätzt werden." In Wirklichkeit zerrte es gewaltig an den Nerven des Max furioso, dass seine eigenen Leute sich gerade den Weg ins Viertelfinale gehörig verbaut hatten. Zwar wurde mit dem 2:2 gegen Tottenham Hotspur der bisherige Klubrekord noch verbessert, bleibt Juve doch nunmehr schon seit 23 Heimspielen in der Champions League ungeschlagen. Aber was bedeutet schon die Statistik, wenn ein glatter Sieg zum Greifen nahe gewesen war, um dann aus reiner Blasiertheit verschenkt zu werden?

Nicht Allegris Publikum im Pressesaal, sondern Coach und Mannschaft hatten die Spurs ja für zu leicht befunden und sich in der Illusion gewiegt, lässig an den Engländern vorbei ins Viertelfinale ziehen zu können, nicht ohne nebenbei einen anderen Rekord dieser Saison zu verbessern: kein Gegentor in 13 Heimspielen.

Eine gute halbe Stunde lang hatte tatsächlich alles darauf hingedeutet. Nach zehn Minuten Aufwärmübungen führte Juventus schon 2:0, nachdem Gonzalo Higuaín gleich nach Anpfiff einen Freistoß von Miralem Pjanic zum Führungstor ins Netz gesetzt hatte (2.) und wenig später einen Strafstoß verwandelte (9.). Da schien das Kräfteverhältnis glasklar zu sein - und die Partie vorzeitig beendet. Champions-League-Routinier gegen tapsige Neulinge. Die einzige Überraschung war, wie reibungslos, ja selbstverständlich die Erwartungen bestätigt wurden. Die Engländer berappelten sich zwar bald und schickten ihren jugendlichen Torjäger Harry Kane ins Vorzimmer des Grandseigneurs Gianluigi Buffon. Der aber wehrte dessen Kopfball ohne größere Anstrengung ab.

Allegri baut das Mittelfeld um, Douglas Costa ist als hängende Spitze sichtlich überfordert

Immerhin war Tottenham irgendwie tapfer ins Spiel gestolpert, als Higuaín sich anschickte, gnadenlos den vorzeitigen Schlussstrich zu ziehen. Wieder von Pjanic bedient, holte der Argentinier vor dem Tor kraftvoll aus - und schoss am linken Pfosten vorbei. Kane aber ließ sich beim nächsten Zug nicht abwimmeln. Blondschopf gegen graue Schläfen, diesmal pustete der Londoner Wirbelsturm das Denkmal Buffon aus seinem Kasten: 2:1 (35.) Und wieder bekam Juve noch vor den Pausenpfiff eine Chance zum Gegenschlag. Wieder ein Elfmeter, diesmal nach einem Strafraumfoul an Douglas Costa. Und wieder Higuaín, der zum Punkt schritt. Er lief an - und schoss den Ball brachial an die Latte.

Zwei Tore geschossen, zwei verschenkt, damit war der Argentinier das Emblem seines Teams, das an diesem Abend die eigene Kompetenz genauso wenig zu nutzen wusste wie die freundlichen Geschenke des Gegners. Dass der präzise Freistoß von Christian Eriksen durch die bröselige Turiner Mauer mit dem Ausgleichstreffer belohnt wurde (72.), war nur recht und billig - zwischenzeitlich hatten die Engländer fast 60 Prozent Ballbesitz, weil Juventus sich noch nicht einmal mit der Verwaltung des kleinen Vorsprungs sonderlich mühte.

Es gab Zeiten, da hätte Juve eine solche Partie mit seiner in 120 Jahren Vereinsgeschichte hervorstechendsten Eigenschaft gewonnen: eiserner Disziplin. Diesmal, und das ließ am Ende auch Allegri die Nerven verlieren, herrschte stattdessen Konfusion. Der Trainer war daran nicht ganz unschuldig. Allegri ist für taktische Experimente bekannt, jetzt hatte er angesichts von Verletzungsausfällen das Mittelfeld umgerüstet und Douglas Costa als hängende Spitze eingesetzt. Der Brasilianer war damit sichtlich überfordert. Genau wie Sami Khedira, der mit dem Tempo der Engländer kaum mithalten konnte, und wie Miralem Pjanic, dem zur Spielgestaltung so gut wie nichts einfiel. Weiter hinten ließen sich die Routiniers Giorgio Chiellini und Alex Sandro austricksen. Und Buffon sah bei Eriksens Freistoß auch nicht mehr souverän aus. Ein Schritt in die falsche Richtung, und aus der Traum.

"Wir sind nicht die Favoriten dieser Champions League", schnaubte Allegri später - und übersah dabei geflissentlich, dass Juventus sehr wohl Favorit des Abends gewesen war. Die Aussichten für das Rückspiel am 7. März sind jetzt nicht mehr ganz so rosig. Vorsorglich warnte der Juve-Coach, es sei schon sehr unwahrscheinlich, in diesem Jahr wieder ins Finale zu kommen, "die Konkurrenz ist einfach sehr stark". Das war sie 2015 und 2017, als Allegris Juve zur allgemeinen Überraschung ins Endspiel gelangte, indes auch gewesen. Doch damals war die Abwehr ebenso verlässlich wie die Dominanz in der heimatlichen Liga. Quasi nebenbei hatte Juve sechs Meisterschaften und drei Pokale in Serie gewonnen, jetzt bröckelt diese Hegemonie. Die Turiner sind seit Monaten hinter dem glänzend aufspielenden Tabellenführer SSC Neapel in der Verfolgerrolle. "Die Meisterschaft Nummer sieben ist unser wichtigstes Ziel", sagt Allegri. Ganz so, als sei Juventus von Tottenham schon auf Provinzformat zurechtgestutzt worden.

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